Jahre vor, während und nach der Synode 72
in Chur. Erinnerungen, Erfahrungen
und Einschätzungen eines Schaaner Seniors'
Georg Schierscher
Jahre vor der Synode 72
Bei meinem Aufwachsen in Schaan war das Leben noch stark kirchlich
geprägt: In der ersten und zweiten Klasse der Volksschule wurden wir
von einer Zamser Klosterschwester unterrichtet; ausser den Kloster-
schwestern gab es damals keine Volksschullehrerinnen. Der Schulkom-
missar war von Amtes wegen ein geistlicher Herr. Wir Volksschüler
besuchten selbstverständlich (!) die allwöchentliche Schulmesse — wer
fehlte, fiel auf. Gleichaltrige, die keine weiterführende Schule mehr
besuchten, waren zur Christenlehre am frühen Sonntagnachmittag ver-
pflichtet. An gewissen Sonntagen, ebenfalls am Nachmittag, waren die
Pfarreiangehörigen zur Vesper eingeladen. Frauen vom Dritten Orden?
hatten ihre regelmässigen Andachten. Die wenige Freizeit bei der dama-
ligen 5%- oder gar 6-Tage-Woche war also durch manche kirchliche
Anlässe besetzt.
An den Bittgängen durch die Felder und an Prozessionen nahmen
alle Volksschulklassen teil, begleitet von ihren Lehrpersonen. Gespannt
erwarteten wir bei der Fronleichnamsprozession an jeder der Stationen
die Dreierserie an Böllerschüssen und ganz besonders jene zum Evange-
lium und zur Wandlung in der anschliessenden Messe, wobei die Kir-
chenmauern von Mal zu Mal stärker vibrierten.
Bei den Messebesuchen waren die Frauen und Mädchen stets links,
die Männer und Buben rechts in den Bänken des Kirchenschiffes ver-
1 Dass der Schreibende Laiensynodale war, geht aus dem vorangehenden Aufsatz von
Franz Näscher hervor.
2 Dritte Orden sind christliche Gemeinschaften, die jeweils gemeinsam mit einem Or-
denszweig für Männer (Erster Orden) und einem für Frauen (Zweiter Orden) eine
Ordensfamilie bilden.
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