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welchem jede Generation und jeder an der Vergangen
heit interessierte Forscher seine eigenen Fragen stellt
und nach Antworten sucht.
Jeder Historiker ist zwar auf die vorhandenen Quel
len angewiesen, die er jedoch auf seine eigene Weise
zum Sprechen bringen will. Dabei stehen ihm aber
zwei vordergründig einander entgegenstehende Ver
fahrensweisen zur Verfügung. Entweder er analysiert
die zur Verfügung stehenden Quellen oder er erzählt
die oder eine darauf beruhende Geschichte. Der mit
seinem Buch «Die Schlafwandler. Wie Europa in den
Ersten Weltkrieg zog» [auf Deutsch 2013 erschie
nen] weltbekannt gewordene australische Historiker
Christopher Clark äusserte sich diesbezüglich in
einem in der Neuen Zürcher Zeitung am 30. Septem
ber 2016 erschienenen Interview:
«Früher ging man von einer falschen Dichotomie aus.
Entweder man analysiert, oder man erzählt. [...] Das
ist eine falsche Polarisierung der Methoden. Man kann
auch analytisch erzählen. Das Schöne am Narrativ ist
ja, dass man die Akteure der Geschichte atmen lassen
kann. Wir haben es ja nicht mit Steinen zu tun.»
Für den folgenden Beitrag soll uns Clarks Diktum als
Leitlinie dienen, denn es gilt für jede Zeitepoche, für
die des Spätmittelalters ebenso sehr wie für die des
Ersten Weltkriegs. Die genaue Analyse der jeweils vor
genommenen Quelle soll dabei Ausgangspunkt sein,
sinnvolle Fragen an den überlieferten Text zu stellen
und nach möglichen Antworten zu suchen, die - auch
wenn sie explizit nicht quellenmässig fassbar sind -
zumindest eine historische Wahrscheinlichkeit für sich
beanspruchen dürfen. Zugegeben, es mag eine mitun
ter gewagte Gratwanderung zwischen einigermassen
fundiertem Wissen und der Gefahr ins Kraut schies
sender Spekulationen sein, aber solange dem Mitwan
derer auf dieser historischen Fährte klar angezeigt
wird, wo der Weg relativ gesicherten Wissens verlas
sen und auf einen Pfad nicht völlig auszuschliessender
Mutmassungen abgezweigt wird, darf ein solches Vor
gehen gewagt werden.
Auf die hier im Zentrum des Interesses stehenden lang
andauernden Grenzstreitigkeiten zwischen der Ge
meinde Balzers und den bündnerischen Gemeinden
Fläsch und Maienfeld machte bereits 1879 Hippolyt
Ludwig von Klenze in seiner Arbeit über die liech
tensteinische Alpwirtschaft aufmerksam. 1 Eine kurze,
aber faktenreiche Übersicht über die wichtigsten
Quellen zur Balzner Gemeindegrenze südlich gegen
Fläsch und Maienfeld, westlich gegen Sargans und
Wartau und nördlich gegen Triesen stellte Dominik
Frick in seinem 1982 publizierten Beitrag zusammen. 2
Paul Vogt unternahm es dann schliesslich in diesen
Neujahrsblättern 2005, die Regulierung der Landes
grenzen zu Graubünden und somit auch die südliche
Balzner Gemeindegrenze zu untersuchen. 3 Als ehema
liger Landesarchivar und notabene Balzner Bürger war
Paul Vogt sozusagen geradezu prädestiniert dafür. Und
er legte denn auch eine akribisch recherchierte Studie
vor, die - zumindest was das Faktische betrifft - kaum
Wünsche übriglässt.
Warum, so mag sich der interessierte Leser fragen, also
noch einmal die Balzner Gemeindegrenzen thema
tisieren? Ich habe bereits andeutungsweise versucht,
meine Motivation für eine erneute Behandlung die
ses spannenden, weil interessante Einblicke in längst
vergangene Lebenswelten gewährenden Themas dar
zulegen. Und es ist durchaus damit zu rechnen, dass
mehr Fragen an die zur Verfügung stehenden Quel
lentexte gestellt werden, als wir Antworten darauf zu
finden vermögen. Auch werden die gefundenen und
vorgeschlagenen Antworten wohl kaum immer restlos
überzeugen. Aber wenn sie zu kritischem Nachdenken
und vielleicht sogar zu kontroverser Stellungnahme
Anregung bieten, dann ist ein erster und wesentlicher
Schritt auf dem immer wieder neu zu suchenden Weg
nach der stets erneut zu stellenden Frage gemacht, wie
es denn einst hätte sein können.
Zur Vorgehensweise: Die nochmalige Behandlung der
Balzner Gemeindegrenzen anhand einer ausführlichen
Analyse der überlieferten Schriftzeugnisse, einer sich
darauf stützenden Kommentierung und historischen
Gewichtung der vorhandenen Quellen mit Abbildung
und vollständiger Textedition lässt sich nicht auf eini
gen wenigen Seiten bewerkstelligen, wie sie üblicher
weise in den Balzner Neujahrsblättern zur Verfügung
stehen. Deshalb soll die Arbeit auf die kommenden
Jahrgänge aufgeteilt werden. Eine Fortsetzungsge
schichte sozusagen, bei der jeweils in der Regel nur eine
einzige Schriftquelle in der erwähnten Art und Weise
untersucht werden soll. Ziel dieser Arbeit ist es vor
erst, die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen
Quellen also nochmals einer intensiven Befragung zu
unterziehen und zu hoffentlich neuen Erkenntnissen
zu gelangen. Der Einbezug der neuzeitlichen Quel
len dieses bis ins 19. Jahrhundert hinauf dauernden
Grenzkonflikts in die Untersuchung wäre ein nächster