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und Zeit. Von Qualität ist nicht die Rede.
Wir vergewaltigen unser Zeitgefühl. In
immer weniger Zeit wollen wir immer
mehr erleben und müssen immer mehr leis
ten. Damit vergewaltigen wir auch unsere
natürlichen Zyklen: Die Zeit der Ruhe wird
der Hektik geopfert - gegen jede Erfahrung
mit unserer Gesundheit.
In der griechischen Mythologie regierten
zwei Götter über die Zeit: Chronos (Chro
nometer!) über die Stunden und Chairos
über das Verweilen. Chronos leierte seinen
unerbittlichen Stundenritus herunter, wäh
rend Chairos die Zeit an der Seite seines
Antipoden genoss. Wir sind nun auf die
Idee gekommen, Chronos allein zu dienen
und Chairos zu entmachten. Für uns ist die
Zeit da, um Rekorde zu brcchcn. Weil wir
Chairos vergessen haben, ist uns das
Wachstum unserer Geist-Seele verloren ge
gangen. Wachsen wir nur materiell, ver
passt der Mensch seine Lebensaufgabe.
Das Leben besteht aus Gegensätzen: Frau
und Mann, Tag und Nacht, Leben und Tod.
Erst die Gegensätze ergeben ein Ganzes.
Der Steigerung folgt eine Phase der Stagna
tion oder der Abnahme. So sieht ein natür
licher Zyklus aus. Und doch tun wir so, als
ob es mit unserem Wachstum nur in eine
Richtung gehen könne: nach oben.
• Unser Zeitgeist ist linear. Ein Nullwachs
tum - welch fürchterlicher Begriff! - ist
schon der Beginn der Katastrophe. Ein
Minus bedeutet Niedergang, Alarm, De
pression. Der Irrglaube an immer mehr
generiert in der westlichen Gesellschaft
eine lähmende Angst. Man höre mit offe
nen Ohren die täglichen Wirtschafts- und
Börsenberichte. Mir ist nicht wohl, wenn
ich an die Psyche dieser Menschen denke.
• In westlichen Staaten gilt ein Wachstum
des Bruttoinlandproduktes (BIP) von
zwei oder mehr Prozent als staatserhal
tend. Alles, was darunter hegt, bedeutet
nach dieser Auffassung eine Gefährdung
des Staatsgebildes. Derzeit wird uns dies
in Deutschland krass vor Augen geführt.
Wäre ein Wirtschaftswachstum von zwei
Prozent auf Dauer möglich, hätten wir in
22 Jahren das Bruttoinlandprodukt um
50 Prozent gesteigert, in 37 Jahren um
200 und in 48 Jahren um 250 Prozent.
Ein heutiger junger Mensch müsste in Der Irrglaube an
48 Jahren statt eines Schnitzels dreiein- immer mehr.
halb vertilgen, bei Schmerzen müsste er
täglich eine Packung Voltaren nehmen -
eine tödliche Dosis. Ein Transportunter
nehmer mit heute 100 LKWs hätte in
48 Jahren 350 Brummis auf den Strassen,
und selbstverständlich müssten diese um
das Zweieinhalbfache verlängert werden.
• Das Argument, dieses Wachstum gehe
auch in die armen Länder, kann nicht
stimmen. Warum werden diese Länder
immer ärmer? Weil die Potentaten in die
sen Ländern unsere Gelder abfangen und
bei unseren Banken Konten einrichten.
Wir beuten die armen Menschen aus und
stürzen ihre Länder in immer höhere
Schulden. Ein kleiner Schuldenerlass be
sänftigt die Schuldgefühle der Reichen.
Wir sprechen euphemistisch von «Ent
wicklungsländern». In Wirklichkeit sind
es die Armenhäuser der Well.
• Der Irrglaube an immer mehr lässt Spiel
und Sport verkommen. Höchstleistungen
ohne Doping werden immer unwahr
scheinlicher, weil wir die biologischen
Möglichkeiten längst überschritten haben
- ausser wir würden Gentechnik-Athleten
für den 100-m-Lauf und solche für den
Ironman auf Hawaii erzeugen. An der
Kölner Sporthochschule gilt es als ge
sichert, dass mindestens ein Drittel aller
Athleten, die an der Tour de France lei
den, in irgendeiner Form gedopt sind.