Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2006) (2006)

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und Zeit. Von Qualität ist nicht die Rede. 
Wir vergewaltigen unser Zeitgefühl. In 
immer weniger Zeit wollen wir immer 
mehr erleben und müssen immer mehr leis 
ten. Damit vergewaltigen wir auch unsere 
natürlichen Zyklen: Die Zeit der Ruhe wird 
der Hektik geopfert - gegen jede Erfahrung 
mit unserer Gesundheit. 
In der griechischen Mythologie regierten 
zwei Götter über die Zeit: Chronos (Chro 
nometer!) über die Stunden und Chairos 
über das Verweilen. Chronos leierte seinen 
unerbittlichen Stundenritus herunter, wäh 
rend Chairos die Zeit an der Seite seines 
Antipoden genoss. Wir sind nun auf die 
Idee gekommen, Chronos allein zu dienen 
und Chairos zu entmachten. Für uns ist die 
Zeit da, um Rekorde zu brcchcn. Weil wir 
Chairos vergessen haben, ist uns das 
Wachstum unserer Geist-Seele verloren ge 
gangen. Wachsen wir nur materiell, ver 
passt der Mensch seine Lebensaufgabe. 
Das Leben besteht aus Gegensätzen: Frau 
und Mann, Tag und Nacht, Leben und Tod. 
Erst die Gegensätze ergeben ein Ganzes. 
Der Steigerung folgt eine Phase der Stagna 
tion oder der Abnahme. So sieht ein natür 
licher Zyklus aus. Und doch tun wir so, als 
ob es mit unserem Wachstum nur in eine 
Richtung gehen könne: nach oben. 
• Unser Zeitgeist ist linear. Ein Nullwachs 
tum - welch fürchterlicher Begriff! - ist 
schon der Beginn der Katastrophe. Ein 
Minus bedeutet Niedergang, Alarm, De 
pression. Der Irrglaube an immer mehr 
generiert in der westlichen Gesellschaft 
eine lähmende Angst. Man höre mit offe 
nen Ohren die täglichen Wirtschafts- und 
Börsenberichte. Mir ist nicht wohl, wenn 
ich an die Psyche dieser Menschen denke. 
• In westlichen Staaten gilt ein Wachstum 
des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 
zwei oder mehr Prozent als staatserhal 
tend. Alles, was darunter hegt, bedeutet 
nach dieser Auffassung eine Gefährdung 
des Staatsgebildes. Derzeit wird uns dies 
in Deutschland krass vor Augen geführt. 
Wäre ein Wirtschaftswachstum von zwei 
Prozent auf Dauer möglich, hätten wir in 
22 Jahren das Bruttoinlandprodukt um 
50 Prozent gesteigert, in 37 Jahren um 
200 und in 48 Jahren um 250 Prozent. 
Ein heutiger junger Mensch müsste in Der Irrglaube an 
48 Jahren statt eines Schnitzels dreiein- immer mehr. 
halb vertilgen, bei Schmerzen müsste er 
täglich eine Packung Voltaren nehmen - 
eine tödliche Dosis. Ein Transportunter 
nehmer mit heute 100 LKWs hätte in 
48 Jahren 350 Brummis auf den Strassen, 
und selbstverständlich müssten diese um 
das Zweieinhalbfache verlängert werden. 
• Das Argument, dieses Wachstum gehe 
auch in die armen Länder, kann nicht 
stimmen. Warum werden diese Länder 
immer ärmer? Weil die Potentaten in die 
sen Ländern unsere Gelder abfangen und 
bei unseren Banken Konten einrichten. 
Wir beuten die armen Menschen aus und 
stürzen ihre Länder in immer höhere 
Schulden. Ein kleiner Schuldenerlass be 
sänftigt die Schuldgefühle der Reichen. 
Wir sprechen euphemistisch von «Ent 
wicklungsländern». In Wirklichkeit sind 
es die Armenhäuser der Well. 
• Der Irrglaube an immer mehr lässt Spiel 
und Sport verkommen. Höchstleistungen 
ohne Doping werden immer unwahr 
scheinlicher, weil wir die biologischen 
Möglichkeiten längst überschritten haben 
- ausser wir würden Gentechnik-Athleten 
für den 100-m-Lauf und solche für den 
Ironman auf Hawaii erzeugen. An der 
Kölner Sporthochschule gilt es als ge 
sichert, dass mindestens ein Drittel aller 
Athleten, die an der Tour de France lei 
den, in irgendeiner Form gedopt sind.
	        

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