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Erlösung nur mit fremder Hilfe
Otto Seger erzählt eine zweite, sehr ähnliche
Sage: «Ein Mann aus Balzers ging einmal
um die Geisterstunde von der Luziensteig
herunter. Auf Prad hörte er auf einmal sei
nen Namen rufen. Als er sich verwundert und
erschrocken umschaute, sah er im Mond
schein einen Mann bei einem Markstein ste
hen, und dieser winkte ihm, sich zu nähern.
Als der Balzner zögerte, kam der Unbekann
te selbst herbei und führte ihn zum Grenz
stein. Dort forderte er ihn auf, den Stein an
einer bestimmten Stelle einzusetzen. Er kam
dieser Aufforderung nach. Jetzt stand der
Mann in schneeweisser, verklärter Gestalt
da und wollte für seine Erlösung mit einem
Händedruck danken. Noch mehr erschro
cken, bot ihm der Balzner seinen Stecken
dar. Am anderen Morgen erhob er sich mit
gebleichten Haaren vom Lager, und in dem
Stocke waren eingebrannt fünf Finger zu
sehen.» 5
Beide Sagen greifen ein Motiv auf, das in
Sagen öfters vorkommt: Die Männer hatten
zu Lebzeiten unrechtmässig einen Grenz
stein versetzt und wurden nach ihrem Tod
dafür bestraft, indem sie keine Ruhe fan
den. Erst wenn der Grenzstein wieder am
richtigen Ort stand, konnten sie erlöst wer
den. Dazu waren sie jedoch auf die Hilfe le
bender Menschen angewiesen. In beiden
Sagen kommt - wenn auch in unterschiedli
cher Weise - deutlich zum Ausdruck, dass
man sich die Hände verbrennt, wenn man
einen Grenzstein versetzt.
riesenhafter Mann, der starke Jörg genannt.
Dieser hatte schon manchen Beweis seiner
Kraft abgelegt, war aber ein ruhiger, gutmü
tiger Bürger und die Balzner schätzten ihn
sehr. Das wussten auch die Bündner. So ka
men die Grenzleute eines Tages überein,
dass sie einen Stein herrichten wollten, den
der Jörg dann von Balzers aus gegen die
Steig tragen sollte. Dort, wo er ihn erstmals
absetzte, sollte die Grenze sein. Die Balzner
waren mit dem Vorschlag einverstanden
und so richteten die Bündner einen Stein,
den zwei Mann auf einem Traggestell äch
zend und stöhnend nach Balzers brachten.
Der Jörg aber lud ihn allein auf seine Schul
tern und schritt nun feste aus. Was gehen
konnte, begleitete den Jörg und viele waren
aus anderen Gemeinden des Landes herbei
geströmt, um diese einmalige Grenzzie
hung zu schauen. Sie spornten den Stein
träger immer wieder an und riefen: <Jörg,
Jörg, jeder Schritt weiter, macht unser Land
breiter!> oder <Jörg, lauf, was du laufen
kannst, es ist zu Nutz und Fromm für unser
Land!> Ausserhalb des Dorfes aber wurde
der Jörg schon merklich langsamer, sein
Atem kam keuchend und stossweise. Doch
immer weiter gings. Den Bündnern tat der
Handel schon leid. Soviel Kraft hatten sie
dem Jörg nicht zugetraut. Wie der brave
Mann mit dem Stein auf dem Rücken aber
zur Quelle kam, die am Fusse des Felsens
der Erde entquillt, fiel er unter der Last zu
sammen und blieb tot liegen. Angesichts
dieses Opfers aber legten die Bündner und
Balzner ihren Streit bei und setzten nun
hier den Grenzstein in Eintracht und <für
ewige Zeiten). Dies war im Jahre 1735.» 6
5 Wie Anm. 4, Nr. 35.
Die gleiche Sage in et
was ausführlicherer
Form bei Dino Larese:
Liechtensteiner Sagen.
Basel 1970, S. 50.
6 Hans-Friedrich Walser:
Liechtensteiner Sagen
aus Berg und Tal.
Schaan 2004 (Nach
druck der 1. Auflage
von 1948), S. 66-68.
7 Ebenda, S. 69 ff.
Die Sage vom starken Jörg
Während die ersten beiden Sagen noch
ganz allgemein über das Schicksal von
Menschen berichten, die unrechtmässig ei
nen Grenzstein versetzen, thematisieren die
beiden nächsten Sagen die Landesgrenze
bei St. Katrinabrunna. Hans-Friedrich Wal
ser erzählt: «Zwischen den Leuten von
Balzers und denen der bündnerischen
Nachbarschaft lag ein alter Streit um die
Grenzziehung; die Bündner wollten näm
lich ihre Grenze nahe bei Balzers haben,
während die Balzner dieselbe auf der Steig
wissen wollten. Zur Zeit, als der Streit am
ärgsten entbrannt war, lebte in Balzers ein
Der Wettlauf über die Luziensteig
Eine andere Version, die von Alfons von
Flugi 1843 unter dem Titel «Der Grenzlauf»
in Reime gefasst wurde 7 , gibt mehr die
Bündner Sicht wieder. Danach hatte der
Fürst von Liechtenstein behauptet, der Grenz
stein sei verschoben worden, was jedoch von
den Bündnern bestritten wurde. Um den
darüber entstandenen Streit zu schlichten,
wurde ein Gottesurteil vereinbart: Um Schlag
zwölf Uhr sollten je ein Läufer von Balzers
und Maienfeld aus auf die Luziensteig star
ten. Dort, wo sich die beiden trafen, sollte
die Grenze sein. Auch in dieser Geschichte