Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2005) (2005)

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Erlösung nur mit fremder Hilfe 
Otto Seger erzählt eine zweite, sehr ähnliche 
Sage: «Ein Mann aus Balzers ging einmal 
um die Geisterstunde von der Luziensteig 
herunter. Auf Prad hörte er auf einmal sei 
nen Namen rufen. Als er sich verwundert und 
erschrocken umschaute, sah er im Mond 
schein einen Mann bei einem Markstein ste 
hen, und dieser winkte ihm, sich zu nähern. 
Als der Balzner zögerte, kam der Unbekann 
te selbst herbei und führte ihn zum Grenz 
stein. Dort forderte er ihn auf, den Stein an 
einer bestimmten Stelle einzusetzen. Er kam 
dieser Aufforderung nach. Jetzt stand der 
Mann in schneeweisser, verklärter Gestalt 
da und wollte für seine Erlösung mit einem 
Händedruck danken. Noch mehr erschro 
cken, bot ihm der Balzner seinen Stecken 
dar. Am anderen Morgen erhob er sich mit 
gebleichten Haaren vom Lager, und in dem 
Stocke waren eingebrannt fünf Finger zu 
sehen.» 5 
Beide Sagen greifen ein Motiv auf, das in 
Sagen öfters vorkommt: Die Männer hatten 
zu Lebzeiten unrechtmässig einen Grenz 
stein versetzt und wurden nach ihrem Tod 
dafür bestraft, indem sie keine Ruhe fan 
den. Erst wenn der Grenzstein wieder am 
richtigen Ort stand, konnten sie erlöst wer 
den. Dazu waren sie jedoch auf die Hilfe le 
bender Menschen angewiesen. In beiden 
Sagen kommt - wenn auch in unterschiedli 
cher Weise - deutlich zum Ausdruck, dass 
man sich die Hände verbrennt, wenn man 
einen Grenzstein versetzt. 
riesenhafter Mann, der starke Jörg genannt. 
Dieser hatte schon manchen Beweis seiner 
Kraft abgelegt, war aber ein ruhiger, gutmü 
tiger Bürger und die Balzner schätzten ihn 
sehr. Das wussten auch die Bündner. So ka 
men die Grenzleute eines Tages überein, 
dass sie einen Stein herrichten wollten, den 
der Jörg dann von Balzers aus gegen die 
Steig tragen sollte. Dort, wo er ihn erstmals 
absetzte, sollte die Grenze sein. Die Balzner 
waren mit dem Vorschlag einverstanden 
und so richteten die Bündner einen Stein, 
den zwei Mann auf einem Traggestell äch 
zend und stöhnend nach Balzers brachten. 
Der Jörg aber lud ihn allein auf seine Schul 
tern und schritt nun feste aus. Was gehen 
konnte, begleitete den Jörg und viele waren 
aus anderen Gemeinden des Landes herbei 
geströmt, um diese einmalige Grenzzie 
hung zu schauen. Sie spornten den Stein 
träger immer wieder an und riefen: <Jörg, 
Jörg, jeder Schritt weiter, macht unser Land 
breiter!> oder <Jörg, lauf, was du laufen 
kannst, es ist zu Nutz und Fromm für unser 
Land!> Ausserhalb des Dorfes aber wurde 
der Jörg schon merklich langsamer, sein 
Atem kam keuchend und stossweise. Doch 
immer weiter gings. Den Bündnern tat der 
Handel schon leid. Soviel Kraft hatten sie 
dem Jörg nicht zugetraut. Wie der brave 
Mann mit dem Stein auf dem Rücken aber 
zur Quelle kam, die am Fusse des Felsens 
der Erde entquillt, fiel er unter der Last zu 
sammen und blieb tot liegen. Angesichts 
dieses Opfers aber legten die Bündner und 
Balzner ihren Streit bei und setzten nun 
hier den Grenzstein in Eintracht und <für 
ewige Zeiten). Dies war im Jahre 1735.» 6 
5 Wie Anm. 4, Nr. 35. 
Die gleiche Sage in et 
was ausführlicherer 
Form bei Dino Larese: 
Liechtensteiner Sagen. 
Basel 1970, S. 50. 
6 Hans-Friedrich Walser: 
Liechtensteiner Sagen 
aus Berg und Tal. 
Schaan 2004 (Nach 
druck der 1. Auflage 
von 1948), S. 66-68. 
7 Ebenda, S. 69 ff. 
Die Sage vom starken Jörg 
Während die ersten beiden Sagen noch 
ganz allgemein über das Schicksal von 
Menschen berichten, die unrechtmässig ei 
nen Grenzstein versetzen, thematisieren die 
beiden nächsten Sagen die Landesgrenze 
bei St. Katrinabrunna. Hans-Friedrich Wal 
ser erzählt: «Zwischen den Leuten von 
Balzers und denen der bündnerischen 
Nachbarschaft lag ein alter Streit um die 
Grenzziehung; die Bündner wollten näm 
lich ihre Grenze nahe bei Balzers haben, 
während die Balzner dieselbe auf der Steig 
wissen wollten. Zur Zeit, als der Streit am 
ärgsten entbrannt war, lebte in Balzers ein 
Der Wettlauf über die Luziensteig 
Eine andere Version, die von Alfons von 
Flugi 1843 unter dem Titel «Der Grenzlauf» 
in Reime gefasst wurde 7 , gibt mehr die 
Bündner Sicht wieder. Danach hatte der 
Fürst von Liechtenstein behauptet, der Grenz 
stein sei verschoben worden, was jedoch von 
den Bündnern bestritten wurde. Um den 
darüber entstandenen Streit zu schlichten, 
wurde ein Gottesurteil vereinbart: Um Schlag 
zwölf Uhr sollten je ein Läufer von Balzers 
und Maienfeld aus auf die Luziensteig star 
ten. Dort, wo sich die beiden trafen, sollte 
die Grenze sein. Auch in dieser Geschichte
	        

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