Bürgerkultur: Zukunft des Dorfes
Eckart Prahm
Klar gibt es Zäune im Dorf,
überschaubare.
Jeder weiss alles von jedem:
Sein Grossvater war ein Trinker,
die Mutter hungrig vor Geiz.
Der Daniel hat früh schon gestohlen,
kaum vierzig Jahre sind es her.
Katharina Adler (geh. 1919 in Waldsee
bei Speyer) beschreibt ihr Allgäuer
Dorf, in dem sie seit 1957 lebt, mit
«äusserster Konzentration», mit «Witz
und Hintersinn». Die grossstädtische
Wochenzeitung «Die Zeit» (Hamburg)
stufte ihre literarischen «Mitteilungen
aus dem Allgäu» (1985) als «merkwür
dig poetisches Opus» ein und erkannte:
«Sie eröffnet damit Tore in die Philoso
phie.» Tatsächlich sind die zitierten
Verse zunächst einmal eine exakte Be
schreibung der dörflichen Gemein
schaft, wie sie von Sozial- und Kultur
wissenschaftlern im Grunde nicht viel
genauer angefertigt wird. Die oft be
schworene Überschaubarkeit und Ge
borgenheit ist das Ergebnis einer rigo
rosen Kontrolle, und zwar um dörfli
ches Überleben in gemeinschaftlichen
Verbänden (Verwandtschaft) überhaupt
möglich zu machen. Das gegenseitige
«Belauern» hat(te) einen schlichten hu
manen Hintersinn - und das schliesst
ein, Verantwortung für den anderen zu
übernehmen, in schwierigen Situatio
nen selbstverständlich Beistand und
Hilfe zu leisten.
Das Dorf - Gemeinschaft
oder Auflösung?
Wer grundsätzliche Entwicklungen
des typischen Dorfes skizzieren will,
geht zumeist von einer solchen Dorf-
gemeinschaft aus, deren Zukunft -
und da sind sich Wissenschaftler und
Politiker nicht selten einig - nur
durch den Rückgriff auf die allmäh
lich verschwindende Vergangenheit
gestaltet werden kann. Ob aber das
zukünftige Dorfleben in einer unüber
sichtlicher werdenden Welt (Stich
wort: Globalisierung) tatsächlich vor
allem von der Tradition bestimmt
wird, ob man also am besten, ja auto
matisch, zu den Wurzeln zurückge
hen soll, oder ob man das Dorf und
seine Grenzen nicht eher als mar-
ginalisierte und überholte Rückstän
digkeit angesichts des allgemeinen ge
sellschaftlichen, ökonomischen und
kommunikativen Wandels ansieht,
um dann daraus möglichst schnell
und radikal die Umbau- oder Auf
lösungskonsequenzen zu ziehen, bei
de Auffassungen - Wurzelgründung
als auch Auflösung - hängen davon
ab, was man in das Dorf und den
ländlichen Raum insgesamt «hinein»-
sieht. Doch zwischen Projektion,
Wunschbildern und genauer Be
schreibung des Dorfes gibt es keine
einfachen Unterschiede, sondern viel
fach Überschneidungen. Man sollte
daher jeweils nach den Interessen und
dem Blickwinkel fragen, die einer
Dorfanalyse zugrunde hegen.
«Nichts geschieht in der Stadt, alles
geschieht auf dem Land. Die Stadt er
zählt nur, was auf dem Land gesche
hen ist, es ist bereits auf dem Land
geschehen.» Diese beiden Sätze von
Gertrude Stein verströmen geradezu
Gewissheit und Gelassenheit; sie un
terstützen in unseren Köpfen den au
tomatischen Reflex, bei «Stadt» im
mer zugleich «Land» mitzudenken.
Da kommt ein solches Zitat gerade
recht, zumal es sich bei Gertrude
Stein (1874-1946) um eine amerikani
sche Intellektuelle handelt, die im Pa
ris der zwanziger Jahre als weitläufige
Literatin eine grosse Anregerin war
und als «Mutter der Moderne» gefei
ert wurde. Angesichts des gegenwärti
gen Trends, wieder häufiger mit
feuchten Augen von den Wurzeln zu
reden, die man angeblich auf dem
Land hat (auch wenn da nur eine
Grossmutter wohnt, die man ganz sel
ten besucht), oder zu schwärmen vom
einfachen Leben auf dem Lande und
den tiefen Werten einer Gemein
schaftskultur mit der Nähe zur Natur,
der Ressourcenschonung, der intak
ten Nachbarschaft und gegenseitigen
Hilfe, ganz zu schweigen von den
Märchen und Volksliedern, die der
einfache Landmann seiner nicht min
der schlichten Frau am Feierabend
auf der kleinen Bank vorm Haus als
eigene Erfindung vorträgt ... Ange
sichts dieses gefühlig-schwammigen
und nur schwer greifbaren Trends
scheint die grossstädtisch geprägte
Gertrude Stein eine eher unverdächti
ge Zeugin mit ihrem Urteil über den
wahren Wert eines Lebens auf dem
Lande.
Sieht man jedoch genauer hin, so
zeigt sich auch in diesen beiden
scheinbar so nüchternen Sätzen ein
zeit- und gesellschaftsabhängiges
Werturteil, gefällt in der Distanz zu
Paris, formuliert als bewusstes Kont
rastprogramm in einer ländlichen
Sommerfrische im Frankreich der
zwanziger Jahre. Das Dorf (und vol
lends die Dorfgemeinschaft) als Grund
lage der gesamten Gesellschaft ist im
deutschsprachigen Raum eine Erfin
dung des frühen 19. Jahrhunderts: Die
Umbruchzeit der beginnenden Indus
trialisierung, die Herausbildung einer
parlamentarisch-demokratischen Herr
schaftsform war eine «Schwebelage
zwischen nicht mehr und noch nicht»
(der Soziologe Niklas Luhmann). Man
entwarf als Kontrast zu einer ausei
nander strebenden Gesellschaft die
Fiktion einer klassenlosen Gemein
schaft als solide Basis der moderner
werdenden Staaten; und man bezog
auch auf diese den grundlegenden
Wert verhaltensregulierender Nor
men und Traditionen und einer Kul
tur, die gemeinschaftsprägenden Sinn
vermittelt.
«Unbeschriebene Fläche»
Nach meinen Erfahrungen seit 1977
(zunächst mit einem Modelldorf der