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ben, dass Ehrenamtliche nicht mehr
automatisch zur Verfügung stehen,
obwohl das neue Dorf gerade auch
neue Formen der Nachbarschaftshilfe
und des Gemeinsinns dringend benö
tigt. Die Kunst besteht darin, dass Poli
tiker und Experten nicht länger und
nicht immer die Rolle der grosse Leitli
nien vorzeichnenden Entscheidungs
träger einnehmen, sondern eher die
Rolle von Moderatoren und Spuren
suchern. Nicht von allem Anfang an ist
klar, was später herauskommt, auch in
unsichere Projekte sollte investiert
werden, denn oft zeigt gerade das Un
gewohnte, wie es gehen könnte.
Auch hier kann man von den kreati
ven Landfrauen lernen; Es gibt kaum
einen Ort, an dem Frauen derzeit
nicht eigene Bilder ausstellen, von
Rathaus-Eingangshallen bis hin zu
Bankgebäuden, kaum eine Form der
Kooperation, die sie nicht einfädeln,
von Gaststätten bis hin zu Steuer
beratungsbüros. Nur selten stellen je
doch männliche Sammler oder Schüler
aus, zum Beispiel wie derzeit in einem
schwäbischen Dorf, wo Schüler bei ih
ren Grosseltern typische «Habseligkei
ten» von früher ausgeliehen haben,
diese präsentieren und als kundige
Museumsführer den Besuchern stolz
erläutern, was sie zuvor bei den
Grosseltern und in der Schule nachge
fragt und gelernt haben.
Doch allzu oft fehlt es an Ermutigung,
an Vermittlung, an Hilfen. Es ist eine
grosse Aufgabe zukünftiger Bürger
kultur, hier unterschiedliche Aktivitä
ten zu fördern. Es gibt beispielsweise
viele ältere Leute, die gerne ihr Leben
aufschreiben wollen, es aber nicht so
recht können oder es sich nicht Zu
trauen. Und es gibt viele Schüler und
Studenten, die gerne beim Aufschrei
ben (und dann auch beim öffentlich
Vorlesen oder Erzählen) helfen und
dabei lernen würden. Wer bringt bei
de zusammen? Auch das ist zukünftig
aktive Bürgerkultur; Leute aus ver
schiedenen Alltagen zusammenzu
bringen, unterschiedliche Lesarten
von Geschichte und Gegenwart vor
zuführen, Unfertiges öffentlich zu
machen, Fragen mit auf den Weg zu
geben. Es gibt so viele Schreib
projekte für Schüler - oft im Bereich
der Geschichte. Das Dorf ist dabei lei
der nicht ein vorrangiges Thema. Für
Schulen und Universitäten - und da
rauf sei nachdrücklich hingewiesen -
ist das Dorf ein grosses und über
schaubares Praxisfeld für konkretes
und interessantes Lernen.
Das betrifft auch Kulturprojekte, die
auf den ersten Blick nicht als sanfter
Entwicklungsfaktor mit grosser Wir
kung erscheinen; Aus Amerika kommt
die Idee des «Service learning». In ei
ner Berliner Hauptschule zum Bei
spiel gehen Schüler in soziale Ein
richtungen und leisten freiwillige
Betreuungsarbeit, etwa in einem Se
niorentreff. Die älteren Leute sind be
geistert, dass sich Schüler um sie
kümmern und ihnen einmal die Wo
che zuhören. Und die Jugendlichen
weiten bei diesen Begegnungen ihren
Horizont: «Man trifft», so ein Schüler,
«auf Menschen, die man im Alltag
nicht wahrnimmt.» Was ein solches
Projekt, als Teil offizieller Lempraxis,
«nebenbei» für die Betreuung älterer,
einsamer Menschen im Dorf bedeu
ten könnte, wird sich jeder selbst aus
malen können. Man muss mit neuen,
ungewohnten, kleinen Schritten an
fangen; die zukünftigen grossen Prob
leme bei der Nachbarschaftshilfe, der
Erziehung, der Altenbetreuung lösen
sich ja nicht automatisch und auf ei
nen Schlag ...
Der Sinn solcher Service-learning-
Projekte ist ein doppelter: Schüler ler
nen fürs Leben, die Alten nehmen am
Leben anders teil, als wenn sie nur
mit Gleichaltrigen verkehren. Hier
können sich Formen der Solidarität
und Hilfeleistung entwickeln, die der
neuen Bürgerkultur jenen hintergrün
digen Sinn verleihen, auf den von An
fang an nicht direkt gezielt wird. Aber
warum sonst sollte man all das tun,
wenn nicht dadurch auch neue For
men des Zusammenlebens entstehen?
Angesichts der gegenwärtigen Globa
lisierung und Mobilität werden wir
ohnehin anstelle der alten Genera
tionenfolgen und familiären Zusam
menhänge neue soziale Formen fin
den müssen, die nicht von vornherein
durch Verwandtschaftsbeziehungen
zusammengehalten werden. Bürger
kultur wird gerade wegen dieser so
zialen Dimensionen und erwünschten
«Nebenfolgen» immer wichtiger. Man
beginnt mit kleineren Projekten und
löst im Laufe der Zeit auch grössere,
weil man «in Übung» ist. Es sind
nicht die grossen Projekte, es geht
auch nicht darum, dass ständig etwas
geschieht, sondern es geht darum, die
Bürgerkultur aktiv und attraktiv zu
gestalten, um im nicht immer einfa
chen Mit- oder auch mal Gegeneinan
der zu lernen. Nicht das einzelne Pro
jekt ist wichtig, sondern die Summe
und die Vielzahl. Auch die Formen
der Anerkennung und des Lobes für
ehrenamtliche Arbeit werden im Rah
men der neuen Bürgerkultur ein The
ma werden (müssen).
Es geht bei allen unterschiedlichen
Formen und Aktivitäten der Bürger
kultur letztlich darum, die globalen
Probleme lokal zu lösen. Das zukünf
tig Spektakuläre ist, das Nicht-Spek
takuläre alltäglich werden zu lassen.
Wir brauchen die neuen Formen der
Bürgerkultur auf dem Lande, um das
Leben in dieser postindustriellen Er
folgsgesellschaft meistern zu können.
Da steht das Dorf derzeit gegenüber
der Stadt nicht schlecht da. Das so
fein ausbalancierte Psychotop in der
bisherigen Form der dörflichen Not-
und Zwangsgemeinschaft zerfällt
langsam, und das wird vielen
schmerzlich bewusst. Aber darauf
wird bereits überall im Lande rea
giert, zaghaft, behutsam, oft von Ex
perten nur schwer erkennbar. Das ver
schafft dem Dorf einen Entwicklungs
vorsprung vor der Stadt; denn dort
spürt man die Probleme der Globa
lisierung am eigenen Leib noch nicht
so wie eben auf dem Land. In der
Stadt hat man die Notwendigkeit und
die Möglichkeiten dieser neuen Kul
tur aktiver Bürger noch nicht in dem
Masse erkannt wie auf dem Land, wo
auch unter diesem Aspekt vieles di
rekter und sinnlicher erfahrbar ist.
Bürgerkultur als Landkultur ist auch
der Versuch, den dörflichen Eigen
sinn nicht länger als rückständig und
entwicklungsbedürftig, sondern als
gleichwertig (aber eben anders) ne
ben den städtischen Eigensinn zu stel
len; denn das Dorf wird in unserem
«Leben in zwei Welten» (lokal und
global, modern und traditionell), die
nebeneinander existieren, eigenwerti
ge Lösungen entwickeln müssen. Der
in einem schleswig-holsteinischen
Dorf 1813 geborene und in der Welt
stadt Wien 1863 gestorbene Dichter
Friedrich Hebbel ist nach wie vor ak
tuell mit seiner Einsicht; «Das Dorf ist
eine kleine Welt, in der die grosse ihre
Probe hält.»