Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

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ben, dass Ehrenamtliche nicht mehr 
automatisch zur Verfügung stehen, 
obwohl das neue Dorf gerade auch 
neue Formen der Nachbarschaftshilfe 
und des Gemeinsinns dringend benö 
tigt. Die Kunst besteht darin, dass Poli 
tiker und Experten nicht länger und 
nicht immer die Rolle der grosse Leitli 
nien vorzeichnenden Entscheidungs 
träger einnehmen, sondern eher die 
Rolle von Moderatoren und Spuren 
suchern. Nicht von allem Anfang an ist 
klar, was später herauskommt, auch in 
unsichere Projekte sollte investiert 
werden, denn oft zeigt gerade das Un 
gewohnte, wie es gehen könnte. 
Auch hier kann man von den kreati 
ven Landfrauen lernen; Es gibt kaum 
einen Ort, an dem Frauen derzeit 
nicht eigene Bilder ausstellen, von 
Rathaus-Eingangshallen bis hin zu 
Bankgebäuden, kaum eine Form der 
Kooperation, die sie nicht einfädeln, 
von Gaststätten bis hin zu Steuer 
beratungsbüros. Nur selten stellen je 
doch männliche Sammler oder Schüler 
aus, zum Beispiel wie derzeit in einem 
schwäbischen Dorf, wo Schüler bei ih 
ren Grosseltern typische «Habseligkei 
ten» von früher ausgeliehen haben, 
diese präsentieren und als kundige 
Museumsführer den Besuchern stolz 
erläutern, was sie zuvor bei den 
Grosseltern und in der Schule nachge 
fragt und gelernt haben. 
Doch allzu oft fehlt es an Ermutigung, 
an Vermittlung, an Hilfen. Es ist eine 
grosse Aufgabe zukünftiger Bürger 
kultur, hier unterschiedliche Aktivitä 
ten zu fördern. Es gibt beispielsweise 
viele ältere Leute, die gerne ihr Leben 
aufschreiben wollen, es aber nicht so 
recht können oder es sich nicht Zu 
trauen. Und es gibt viele Schüler und 
Studenten, die gerne beim Aufschrei 
ben (und dann auch beim öffentlich 
Vorlesen oder Erzählen) helfen und 
dabei lernen würden. Wer bringt bei 
de zusammen? Auch das ist zukünftig 
aktive Bürgerkultur; Leute aus ver 
schiedenen Alltagen zusammenzu 
bringen, unterschiedliche Lesarten 
von Geschichte und Gegenwart vor 
zuführen, Unfertiges öffentlich zu 
machen, Fragen mit auf den Weg zu 
geben. Es gibt so viele Schreib 
projekte für Schüler - oft im Bereich 
der Geschichte. Das Dorf ist dabei lei 
der nicht ein vorrangiges Thema. Für 
Schulen und Universitäten - und da 
rauf sei nachdrücklich hingewiesen - 
ist das Dorf ein grosses und über 
schaubares Praxisfeld für konkretes 
und interessantes Lernen. 
Das betrifft auch Kulturprojekte, die 
auf den ersten Blick nicht als sanfter 
Entwicklungsfaktor mit grosser Wir 
kung erscheinen; Aus Amerika kommt 
die Idee des «Service learning». In ei 
ner Berliner Hauptschule zum Bei 
spiel gehen Schüler in soziale Ein 
richtungen und leisten freiwillige 
Betreuungsarbeit, etwa in einem Se 
niorentreff. Die älteren Leute sind be 
geistert, dass sich Schüler um sie 
kümmern und ihnen einmal die Wo 
che zuhören. Und die Jugendlichen 
weiten bei diesen Begegnungen ihren 
Horizont: «Man trifft», so ein Schüler, 
«auf Menschen, die man im Alltag 
nicht wahrnimmt.» Was ein solches 
Projekt, als Teil offizieller Lempraxis, 
«nebenbei» für die Betreuung älterer, 
einsamer Menschen im Dorf bedeu 
ten könnte, wird sich jeder selbst aus 
malen können. Man muss mit neuen, 
ungewohnten, kleinen Schritten an 
fangen; die zukünftigen grossen Prob 
leme bei der Nachbarschaftshilfe, der 
Erziehung, der Altenbetreuung lösen 
sich ja nicht automatisch und auf ei 
nen Schlag ... 
Der Sinn solcher Service-learning- 
Projekte ist ein doppelter: Schüler ler 
nen fürs Leben, die Alten nehmen am 
Leben anders teil, als wenn sie nur 
mit Gleichaltrigen verkehren. Hier 
können sich Formen der Solidarität 
und Hilfeleistung entwickeln, die der 
neuen Bürgerkultur jenen hintergrün 
digen Sinn verleihen, auf den von An 
fang an nicht direkt gezielt wird. Aber 
warum sonst sollte man all das tun, 
wenn nicht dadurch auch neue For 
men des Zusammenlebens entstehen? 
Angesichts der gegenwärtigen Globa 
lisierung und Mobilität werden wir 
ohnehin anstelle der alten Genera 
tionenfolgen und familiären Zusam 
menhänge neue soziale Formen fin 
den müssen, die nicht von vornherein 
durch Verwandtschaftsbeziehungen 
zusammengehalten werden. Bürger 
kultur wird gerade wegen dieser so 
zialen Dimensionen und erwünschten 
«Nebenfolgen» immer wichtiger. Man 
beginnt mit kleineren Projekten und 
löst im Laufe der Zeit auch grössere, 
weil man «in Übung» ist. Es sind 
nicht die grossen Projekte, es geht 
auch nicht darum, dass ständig etwas 
geschieht, sondern es geht darum, die 
Bürgerkultur aktiv und attraktiv zu 
gestalten, um im nicht immer einfa 
chen Mit- oder auch mal Gegeneinan 
der zu lernen. Nicht das einzelne Pro 
jekt ist wichtig, sondern die Summe 
und die Vielzahl. Auch die Formen 
der Anerkennung und des Lobes für 
ehrenamtliche Arbeit werden im Rah 
men der neuen Bürgerkultur ein The 
ma werden (müssen). 
Es geht bei allen unterschiedlichen 
Formen und Aktivitäten der Bürger 
kultur letztlich darum, die globalen 
Probleme lokal zu lösen. Das zukünf 
tig Spektakuläre ist, das Nicht-Spek 
takuläre alltäglich werden zu lassen. 
Wir brauchen die neuen Formen der 
Bürgerkultur auf dem Lande, um das 
Leben in dieser postindustriellen Er 
folgsgesellschaft meistern zu können. 
Da steht das Dorf derzeit gegenüber 
der Stadt nicht schlecht da. Das so 
fein ausbalancierte Psychotop in der 
bisherigen Form der dörflichen Not- 
und Zwangsgemeinschaft zerfällt 
langsam, und das wird vielen 
schmerzlich bewusst. Aber darauf 
wird bereits überall im Lande rea 
giert, zaghaft, behutsam, oft von Ex 
perten nur schwer erkennbar. Das ver 
schafft dem Dorf einen Entwicklungs 
vorsprung vor der Stadt; denn dort 
spürt man die Probleme der Globa 
lisierung am eigenen Leib noch nicht 
so wie eben auf dem Land. In der 
Stadt hat man die Notwendigkeit und 
die Möglichkeiten dieser neuen Kul 
tur aktiver Bürger noch nicht in dem 
Masse erkannt wie auf dem Land, wo 
auch unter diesem Aspekt vieles di 
rekter und sinnlicher erfahrbar ist. 
Bürgerkultur als Landkultur ist auch 
der Versuch, den dörflichen Eigen 
sinn nicht länger als rückständig und 
entwicklungsbedürftig, sondern als 
gleichwertig (aber eben anders) ne 
ben den städtischen Eigensinn zu stel 
len; denn das Dorf wird in unserem 
«Leben in zwei Welten» (lokal und 
global, modern und traditionell), die 
nebeneinander existieren, eigenwerti 
ge Lösungen entwickeln müssen. Der 
in einem schleswig-holsteinischen 
Dorf 1813 geborene und in der Welt 
stadt Wien 1863 gestorbene Dichter 
Friedrich Hebbel ist nach wie vor ak 
tuell mit seiner Einsicht; «Das Dorf ist 
eine kleine Welt, in der die grosse ihre 
Probe hält.»
	        

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