Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

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Auch in Balzers war früher der Jahres 
ablauf durch kirchliche Feste und 
weltliche Bräuche klar gegliedert, was 
der dörflichen Gemeinschaft Sicher 
heit und Halt verlieh. 
Die Aufnahme entstand anlässlich der 
Firmung von 1916 in Balzers. 
einen anderen Blick als ein städti 
sches. Es schaut anders, vielleicht ge 
ruhsamer, weniger angespannt, und 
es sieht andere Dinge, z. B. keine 
schöne Landschaft, sondern fruchtba 
re Äcker, die jemandem gehören. Die 
Gesetze einer dörflichen Welt sind mit 
den Mitteln «städtischer Wissen- 
schaft> nur mühsam zu entziffern, ob 
wohl die Regeln und Gesetze für die 
jenigen, die in diesem Kosmos leben, 
das allerselbstverständlichste sind. 
Die Fremdheit dieser Verhaltenswei 
sen sollte sie nicht als missions 
bedürftig abtun, sondern uns unserer 
eigenen unsicher machen.» 
Dörflicher Eigensinn 
«Kaum vierzig Jahre sind es her» - so 
etwas bleibt im dörflichen Gedächtnis 
lange haften. Im Laufe der Geschichte 
wurde das dörfliche Innenleben we 
sentlich durch das gegenseitige Aufei- 
nander-angewiesen-Sein in einer Art 
Notbehelfsökonomie geprägt und 
durch die Krisen- und Katastrophen 
abhängigkeiten von einer «unbere 
chenbaren» Natur und dem Einbruch 
der «grossen» Geschichte in die «klei 
ne» Welt. Das alles führte zu Trauma 
tisierungen, die sich tief ins kollektive 
Gedächtnis der Dörfer eingegraben ha 
ben. Auch wenn es uns allen heute bes 
ser geht, gilt mit gewissen Abstrichen 
nach wie vor, was die beiden Tübinger 
Kulturwissenschaftler Utz Jeggle und 
Albert lllien nach der historischen Ana 
lyse von Kiebingen, einem kleinen Dorf 
in der Nähe von Tübingen, Mitte der 
1970er Jahre herausfanden; Die Kinder 
leiden unter der Not ihrer Eltern und 
Grosseltern. Die ländliche Familie 
überlebte als Produktionsverband, ein 
gespannt in ein enges Verwandt 
schaftsnetz, nach dem Selbsthilfe 
prinzip, und weil Überleben nur mög 
lich war, wenn die grundlegenden 
Werte, Beziehungen und Bindungen 
rigoros beachtet (und kontrolliert) 
wurden: ein hohes Arbeitsethos, eine 
unerbittliche Moral, das Verwandt 
schaftsprinzip, Bodenständigkeit und 
begrenzte Mobilität, Lebensentwürfe 
in einer mehr oder weniger «familiä 
ren Biographie» (das «Ich» als «Wir»). 
Wenn der verwitwete Grossvater früher 
etwa in Liebe erglühte und eine Zwan 
zigjährige heiratete, dann brachte das 
ein ausbalanciertes Netz der sozialen 
Beziehungen und Überlebensstrategien 
(einschliesslich der Alterssicherung) 
vollkommen durcheinander. 
Für aufgeklärte Städler sind be 
stimmte dörfliche Ausdrucksformen 
meist unverständlich geblieben, etwa 
die Frage in einem schwäbischen 
Dorf an ein Kind «Wem gehörst du?» 
oder die aus vielen Dörfern überliefer 
te Geschichte jener von auswärts ein 
geheirateten bäuerlichen Schwieger 
tochter, die bei der Beerdigung ihrer 
Schwiegermutter fragt: «Heult man 
bei euch vor oder nach der Leich?» In
	        

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