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Auch in Balzers war früher der Jahres
ablauf durch kirchliche Feste und
weltliche Bräuche klar gegliedert, was
der dörflichen Gemeinschaft Sicher
heit und Halt verlieh.
Die Aufnahme entstand anlässlich der
Firmung von 1916 in Balzers.
einen anderen Blick als ein städti
sches. Es schaut anders, vielleicht ge
ruhsamer, weniger angespannt, und
es sieht andere Dinge, z. B. keine
schöne Landschaft, sondern fruchtba
re Äcker, die jemandem gehören. Die
Gesetze einer dörflichen Welt sind mit
den Mitteln «städtischer Wissen-
schaft> nur mühsam zu entziffern, ob
wohl die Regeln und Gesetze für die
jenigen, die in diesem Kosmos leben,
das allerselbstverständlichste sind.
Die Fremdheit dieser Verhaltenswei
sen sollte sie nicht als missions
bedürftig abtun, sondern uns unserer
eigenen unsicher machen.»
Dörflicher Eigensinn
«Kaum vierzig Jahre sind es her» - so
etwas bleibt im dörflichen Gedächtnis
lange haften. Im Laufe der Geschichte
wurde das dörfliche Innenleben we
sentlich durch das gegenseitige Aufei-
nander-angewiesen-Sein in einer Art
Notbehelfsökonomie geprägt und
durch die Krisen- und Katastrophen
abhängigkeiten von einer «unbere
chenbaren» Natur und dem Einbruch
der «grossen» Geschichte in die «klei
ne» Welt. Das alles führte zu Trauma
tisierungen, die sich tief ins kollektive
Gedächtnis der Dörfer eingegraben ha
ben. Auch wenn es uns allen heute bes
ser geht, gilt mit gewissen Abstrichen
nach wie vor, was die beiden Tübinger
Kulturwissenschaftler Utz Jeggle und
Albert lllien nach der historischen Ana
lyse von Kiebingen, einem kleinen Dorf
in der Nähe von Tübingen, Mitte der
1970er Jahre herausfanden; Die Kinder
leiden unter der Not ihrer Eltern und
Grosseltern. Die ländliche Familie
überlebte als Produktionsverband, ein
gespannt in ein enges Verwandt
schaftsnetz, nach dem Selbsthilfe
prinzip, und weil Überleben nur mög
lich war, wenn die grundlegenden
Werte, Beziehungen und Bindungen
rigoros beachtet (und kontrolliert)
wurden: ein hohes Arbeitsethos, eine
unerbittliche Moral, das Verwandt
schaftsprinzip, Bodenständigkeit und
begrenzte Mobilität, Lebensentwürfe
in einer mehr oder weniger «familiä
ren Biographie» (das «Ich» als «Wir»).
Wenn der verwitwete Grossvater früher
etwa in Liebe erglühte und eine Zwan
zigjährige heiratete, dann brachte das
ein ausbalanciertes Netz der sozialen
Beziehungen und Überlebensstrategien
(einschliesslich der Alterssicherung)
vollkommen durcheinander.
Für aufgeklärte Städler sind be
stimmte dörfliche Ausdrucksformen
meist unverständlich geblieben, etwa
die Frage in einem schwäbischen
Dorf an ein Kind «Wem gehörst du?»
oder die aus vielen Dörfern überliefer
te Geschichte jener von auswärts ein
geheirateten bäuerlichen Schwieger
tochter, die bei der Beerdigung ihrer
Schwiegermutter fragt: «Heult man
bei euch vor oder nach der Leich?» In