Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

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jedoch nichts über das Land, aber al 
les über städtische Kaputtheit.» 
Es gibt erhebliche Erkenntnisschwie 
rigkeiten für Städter, Land und Land 
wirtschaft überhaupt objektiv in den 
Blick zu bekommen. Beate Brügge 
mann und Rainer Riehle behaupten in 
ihrem Buch «Das Dorf» (1986) sogar: 
«Dorfstudien ohne gegenseitige Kennt 
nis und Anerkennung - und da genü 
gen eben mehrmalige, auch mehrwö 
chige Aufenthalte oder auch der Be 
sitz eines Ferienhäuschens am Ort 
nicht - sind nicht möglich; ihre Ergeb 
nisse können nur von äusserst be 
grenztem Wert sein. Sprechen werden 
die Menschen im Dorf auf Nachfrage 
gewiss immer, und die entsprechen 
den Fragen kann jeder stellen. Das 
Sprechen allein ist aber nur ein gerin 
ger Ausschnitt individueller und kol 
lektiver Lebensäusserung. Worte ge 
winnen ihre Bedeutung erst im Ver 
ständnis der sozialen Normalität 
dörflichen Lebens - und auch nur 
dort fallen sie.» Das Ergebnis ihrer 
Studie lässt sich so zusammenfassen; 
«Die gegenwärtige Regulierung des 
sozialen Lebens im Dorf ist trotz der 
Marginalisierung von Bauern im Dorf 
und der städtischen Vereinnahmung 
der Dörfer immer noch weitgehend 
bäuerlich geprägt.» 
Diese Vorstellung vom Dorf als Ge 
meinschaft und als gesamtgesell 
schaftliches Modell hat sich in den 
Wissenschaften und in Politikerreden 
lange gehalten. Erst seit fünfzig Jah 
ren, als die bäuerliche Bevölkerung 
schrumpfte, als ein beträchtlicher Teil 
der Dorfbewohner in die Städte ab- 
wanderte, nahm man Zersiedelung, 
Landflucht, Bauernsterben, Entsoli- 
darisierung und Heimatverlust - die 
Krise des Dorfes also - überhaupt erst 
richtig wahr. Aber dann wurden häufig 
die bisherigen Projektionen von aussen 
(von städtisch geprägten Wissenschaft 
lern und Politikern) nur einfach umge 
dreht: Das Dorf war also nicht länger 
ein zukunftsträchtiges und grundle 
gendes Gesellschaftsmodell, sondern 
ein Relikt der Vergangenheit, ohne ei 
gene Zukunft; es sollte unverzüglich in 
die Gegenwart hinein «modernisiert» 
werden, am besten gleich der Stadt als 
Vorzone eingegliedert werden. 
Diese Sicht auf das Dorf- jeweils von 
den Agrarsoziologen, den Politologen, 
den Historikern oder den Volkskund 
lern - hielt sich jedoch nicht lange. 
Der forschende Blick konstruierte in 
den letzten zwei Jahrzehnten das Dorf 
wiederum neu. Statt Rückkehr zur 
Gemeinschaft oder Überwindung der 
Rückständigkeit zu fordern, wurde 
das Dorf zunächst einmal als Alltags 
ort mit zeitgleich widersprüchlichen 
Erfahrungen erkannt: sowohl lokale 
Einbindung als auch globale Offen 
heit, Nähe und Ferne, Fortschritt und 
Rückschritt zugleich. Die eindeutigen 
und bisweilen etwas leichthändigen 
Zuordnungen und Bewertungen der 
dörflichen Realität sind also einer 
Das Dorf'als Alltagsort mit wider 
sprüchlichen Erfahrungen: lokale Ein 
bindung und globale Offenheit, Nähe 
und Ferne, Fortschritt und Rück 
schritt 
neuen Offenheit gewichen (um eine 
gewisse aktuelle Ratlosigkeit bei Wis 
senschaftlern und Regionalpolitikern 
positiv zu formulieren ...). 
Diese unübersichtliche Gemengelage 
aus Tradition und Moderne zu durch 
schauen, darin liegt gegenwärtig wohl 
das schwerste Erkenntnishindernis 
auf dem Weg zu einem zukünftigen, 
angemessenen Dorf- und Landver 
ständnis. Vielleicht schärft ein an kul 
turellen Differenzen trainierter Blick 
ja auch die Schreiber von Grossstadt- 
Zeitungen, von denen einer 1988 be 
reits vorwegnahm, was vor unseren 
Augen inzwischen möglicherweise ge 
schehen ist, ohne dass wir es bemerkt 
haben, weil wir uns von lieb gewonne 
nen Vorstellungen über das Stadt- 
Land-Gefälle nicht trennen können 
oder wollen. Ein Schreiber der 
«Frankfurter Allgemeinen Zeitung» 
(FAZ): «Im toten Winkel zwischen den 
Städten findet die stillste aller Revolu 
tionen statt: das Verschwinden des 
Dorfes.» Solche Sätze kommen he 
raus, wenn ihre Verfasser gelegentlich 
aufs Land fahren; denn dabei ist das 
Land für sie nur ein lästiger und voll 
kommen uninteressanter Raum «zwi 
schen der Stadt, aus der wir kommen, 
und der Stadt, in die wir wollen». 
Inzwischen ist der städtische Blick 
durch das kulturelle Wahrnehmungs 
training jedoch offenbar geschärft. 
Der Tübinger Kulturwissenschaftler 
Utz Jeggle: «Ein dörfliches Auge hat
	        

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