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jedoch nichts über das Land, aber al
les über städtische Kaputtheit.»
Es gibt erhebliche Erkenntnisschwie
rigkeiten für Städter, Land und Land
wirtschaft überhaupt objektiv in den
Blick zu bekommen. Beate Brügge
mann und Rainer Riehle behaupten in
ihrem Buch «Das Dorf» (1986) sogar:
«Dorfstudien ohne gegenseitige Kennt
nis und Anerkennung - und da genü
gen eben mehrmalige, auch mehrwö
chige Aufenthalte oder auch der Be
sitz eines Ferienhäuschens am Ort
nicht - sind nicht möglich; ihre Ergeb
nisse können nur von äusserst be
grenztem Wert sein. Sprechen werden
die Menschen im Dorf auf Nachfrage
gewiss immer, und die entsprechen
den Fragen kann jeder stellen. Das
Sprechen allein ist aber nur ein gerin
ger Ausschnitt individueller und kol
lektiver Lebensäusserung. Worte ge
winnen ihre Bedeutung erst im Ver
ständnis der sozialen Normalität
dörflichen Lebens - und auch nur
dort fallen sie.» Das Ergebnis ihrer
Studie lässt sich so zusammenfassen;
«Die gegenwärtige Regulierung des
sozialen Lebens im Dorf ist trotz der
Marginalisierung von Bauern im Dorf
und der städtischen Vereinnahmung
der Dörfer immer noch weitgehend
bäuerlich geprägt.»
Diese Vorstellung vom Dorf als Ge
meinschaft und als gesamtgesell
schaftliches Modell hat sich in den
Wissenschaften und in Politikerreden
lange gehalten. Erst seit fünfzig Jah
ren, als die bäuerliche Bevölkerung
schrumpfte, als ein beträchtlicher Teil
der Dorfbewohner in die Städte ab-
wanderte, nahm man Zersiedelung,
Landflucht, Bauernsterben, Entsoli-
darisierung und Heimatverlust - die
Krise des Dorfes also - überhaupt erst
richtig wahr. Aber dann wurden häufig
die bisherigen Projektionen von aussen
(von städtisch geprägten Wissenschaft
lern und Politikern) nur einfach umge
dreht: Das Dorf war also nicht länger
ein zukunftsträchtiges und grundle
gendes Gesellschaftsmodell, sondern
ein Relikt der Vergangenheit, ohne ei
gene Zukunft; es sollte unverzüglich in
die Gegenwart hinein «modernisiert»
werden, am besten gleich der Stadt als
Vorzone eingegliedert werden.
Diese Sicht auf das Dorf- jeweils von
den Agrarsoziologen, den Politologen,
den Historikern oder den Volkskund
lern - hielt sich jedoch nicht lange.
Der forschende Blick konstruierte in
den letzten zwei Jahrzehnten das Dorf
wiederum neu. Statt Rückkehr zur
Gemeinschaft oder Überwindung der
Rückständigkeit zu fordern, wurde
das Dorf zunächst einmal als Alltags
ort mit zeitgleich widersprüchlichen
Erfahrungen erkannt: sowohl lokale
Einbindung als auch globale Offen
heit, Nähe und Ferne, Fortschritt und
Rückschritt zugleich. Die eindeutigen
und bisweilen etwas leichthändigen
Zuordnungen und Bewertungen der
dörflichen Realität sind also einer
Das Dorf'als Alltagsort mit wider
sprüchlichen Erfahrungen: lokale Ein
bindung und globale Offenheit, Nähe
und Ferne, Fortschritt und Rück
schritt
neuen Offenheit gewichen (um eine
gewisse aktuelle Ratlosigkeit bei Wis
senschaftlern und Regionalpolitikern
positiv zu formulieren ...).
Diese unübersichtliche Gemengelage
aus Tradition und Moderne zu durch
schauen, darin liegt gegenwärtig wohl
das schwerste Erkenntnishindernis
auf dem Weg zu einem zukünftigen,
angemessenen Dorf- und Landver
ständnis. Vielleicht schärft ein an kul
turellen Differenzen trainierter Blick
ja auch die Schreiber von Grossstadt-
Zeitungen, von denen einer 1988 be
reits vorwegnahm, was vor unseren
Augen inzwischen möglicherweise ge
schehen ist, ohne dass wir es bemerkt
haben, weil wir uns von lieb gewonne
nen Vorstellungen über das Stadt-
Land-Gefälle nicht trennen können
oder wollen. Ein Schreiber der
«Frankfurter Allgemeinen Zeitung»
(FAZ): «Im toten Winkel zwischen den
Städten findet die stillste aller Revolu
tionen statt: das Verschwinden des
Dorfes.» Solche Sätze kommen he
raus, wenn ihre Verfasser gelegentlich
aufs Land fahren; denn dabei ist das
Land für sie nur ein lästiger und voll
kommen uninteressanter Raum «zwi
schen der Stadt, aus der wir kommen,
und der Stadt, in die wir wollen».
Inzwischen ist der städtische Blick
durch das kulturelle Wahrnehmungs
training jedoch offenbar geschärft.
Der Tübinger Kulturwissenschaftler
Utz Jeggle: «Ein dörfliches Auge hat