Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2003) (2003)

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re hinein und hinten wieder hinaus, 
und in der Mitte steht dann der Wag 
ner», sagt Neli zu Gerlinda. «Er macht 
auch immer zur Weihnachtszeit ganz 
schöne Spielsachen, wie kleine Leiter 
wagen, Puppenhäuser für Mädchen 
und Ställe für die Buben. Das ist sehr 
schön, denn es bringt uns die Vorfreu 
de zur kommenden Weihnachtszeit.» 
- «Er arbeitet auch jeden Tag bis spät 
in die Nacht. Mein Papa hilft ihm da 
bei, damit er dem Christkind die Sa 
chen auch noch rechtzeitig abliefern 
kann», erzählt ihr Nana. 
Gleich sind sie da. Vor dem ITaus des 
Wagners kann man schon erkennen, 
dass der, der ihn sucht, am richtigen 
Ort ist. Oder wenn der Kunde lesen 
kann, ist da noch an der Strassenseite 
der Aussenwand des Hauses der 
Name des Wagners aufgemalt. Da leh 
nen neben der Eingangstüre einge 
schneite, eisenbereifte Holzräder, die 
geflickt werden müssen, oder eine 
lange Sprossenleiter, die auch repara 
turbedürftig ist. Unter dem Vordach 
neben dem grossen Birnbaum steht 
ein Leiterwagen mit gebrochenem 
Speichenrad. Die kleineren Hand 
werkzeuge, die zum Erneuern oder 
zum Schleifen sind, befinden sich 
drinnen in der Werkstatt. Als sie die 
Werkstatt betreten, kommt ihnen der 
grauhaarige, rundliche Mann mit 
Schnurrbart humpelnd an seinem 
Stock entgegen. Er holt gerade Brenn 
holz für seinen runden Ofen, der in 
der Ecke steht und ihm den grossen 
Raum etwas aufwärmt. Diese Arbeit 
ist recht mühsam für ihn, denn seine 
Behinderung lässt ihm nur eine Hand 
hei, das Brennholz zu tragen. «Ja, 
wer kommt denn da!» Er freut sich 
über den Besuch und macht seinen 
Spass mit den Mädchen. Dabei über 
sieht er Gerlinda, die etwas abseits 
steht. «Komm Josef, wir helfen dir», 
sagen sie. Und jedes nimmt ein Stück 
und legt es in der Nähe des Ofens ab. 
Das freut natürlich den Wagner, und 
er bedankt sich. Er füllt den Ofen von 
oben, indem er zuerst den heissen 
Deckel mit seinen klobigen Fingern 
abhebt, so als ob das gar nichts wäre. 
Überall stehen Holzleisten und Bret 
ter, so dass nur noch ein schmaler 
Weg, übersät mit Spänen und Säge 
mehl, besteht, der von seiner Werk 
bank zum Ofen, zu den beiden Aus 
gangstüren und zu den verschiedenen 
Maschinen führt. An der rauchge 
schwärzten Holzdecke sieht man 
Spinnweben, in denen der Sägemehl 
staub hängt. Halterungen für die 
Übersetzungen des Riemenantriebs 
für die Maschinen sind ebenfalls an 
der Decke befestigt. In der Mitte sei 
nes Arbeitsplatzes ist ein Fenster. 
Links und rechts davon hängen seine 
Werkzeugkästen. Mitten im Raum 
steht die grosse Bandsäge. 
«Manchmal kommen wir hierher zum 
Spielen. Man kann sich hier sehr gut 
verstecken, oder wir spielen im Säge 
mehl», erzählt Linda. Josef schaut 
jetzt einer sonderbaren Frau in die 
Augen, deren Anblick ihm ein Rätsel 
ist. «Aha, wer ist denn das?», fragt er 
und wundert sich erst jetzt, was die 
Unbekannte mit ihrem langen Rock 
und dem grossen Kopftuch will. Vol 
ler Stolz stellt Waly ihm Gerlinda vor 
und erzählt ihm von ihr - aber nicht 
alles! «Da habt ihr noch eine schöne 
Zeit vor euch, Kinder», bemerkt Josef 
und arbeitet an seinem Werkstück 
weiter, das er auf der Hobelbank be 
festigt hat. 
Sie schauen ihm eine Weile zu, stellen 
Fragen und plaudern mit ihm. Schön 
zum Zusehen, wie gefühlvoll er mit 
dem Zugmesser einen Axtstiel anfer 
tigt. «So, wir gehen jetzt weiter zu 
Engelbert, dem Händler, denn wir 
müssen noch unsere Funkensachen 
kaufen.» - «Ja so, morgen ist Funken 
sonntag! Kommt her, ihr bekommt 
von mir auch noch ein paar Münzen.» 
Er greift unter seine Schürze und zieht 
seinen Geldbeutel aus der Brusttasche 
seiner Weste. «Wir müssen ihm 
manchmal bei Engelbert Kautabak 
kaufen», flüstert Neli Gerlinda ins Ohr. 
«Kautabak? ... Wäähhü» 
Dankend nehmen die Kinder die 
Münzen entgegen und verlassen die 
Werkstatt des Wagners durch die Hin 
tertüre, wie immer, wenn sie aus der 
Schule kommen und schnell noch bei 
Josef vorbeischauen; denn bei ihm 
gibt es zu jeder Jahreszeit viel Interes 
santes zu sehen. 
Als sie bei dem Laden des Kolonialwa 
renhändlers ankommen, scheint für 
Gerlinda ein neues Zeitalter anzubre 
chen. Da sind zwei grosse Schaufens 
ter, links davon eine Eingangstür. 
Oben über den grossen Schaufenstern 
hängt eine Tafel, auf der zu lesen ist: 
KOLONIALWARENHÄNDLER 
ENGELBERT 
Hinter den Scheiben sind verschiede 
ne Artikel wie Säcke, Schachteln und 
Waschmehl, Flaschen und Werkzeuge 
ausgestellt. «Da, da!», ruft Neli und 
drückt sich an der Scheibe fast die 
kleine Nase platt. «Kareten, Kareten!» 
- «Aber Neli, das heisst doch Rake 
ten», erklärt ihr ihre grosse Schwester 
Nana. Gerlinda ist starr vor Staunen 
und hat nicht mitbekommen, was die 
Mädchen plaudern. Vor der Laden 
türe stehen sie nun. Linda hat schon 
an dem Griff gezogen, der auf der 
rechten Seite am Türstock befestigt 
ist. Das Gestänge bewegt eine kleine 
Glocke im Hausflur des Händlers, die 
sehr laut klingt. Im Hausflur hört 
man alsbald die hell-heisere Stimme 
eines Mannes: «Komme ja schon, ich 
komme ja schon!» Jeden Schritt über 
die hölzerne Treppe herunter kann 
man deutlich hören. Engelbert trägt 
immer grosse, schwere Schuhe, weil 
er so viel hinter seinem Ladentisch 
stehen muss. Bald darauf schiebt er 
den Riegel auf und öffnet die Ein 
gangstüre. Drinnen steht eine grosse, 
magere Gestalt. Die Hosenträger zie 
hen ihm die Hosen weit über seinen 
Bauch hinauf. «Ja, wen haben wir 
denn da? Meine liebsten Nachbars 
kinder.» Das sagt Engelbert jedes Mal,
	        

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