Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2003) (2003)

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«Dr Gimmerääs und dr Gammerääs ...» 
Aussterbende Kinderreime und Spottverse 
Georg Burgmeier 
Vorbemerkung 
«Den Kindervers begreifen wollen, 
heisst, ihn in seinen sozialen Funktio 
nen sehen und seine unterschiedli 
chen Erscheinungsformen als Funk 
tionsmodelle.» 1 
Kinderverse sind also alles andere als 
herzige Gedichtchen, welche die «lie 
ben Kleinen» zum Ergötzen der Er 
wachsenen aufsagen. Sie bilden viel 
eher ein Ventil gegen Emst im Kinder 
alltag; ein Instrument, um sich gegen 
Widersacher zu behaupten; eine ver 
bale Waffe als Ersatz für brachiale 
Gewalt und nicht zuletzt ein Mittel, 
um lustvoll Grenzen zu überschrei 
ten, die von irgendwelchen Autori 
tätspersonen gezogen worden sind. 
Wenn man die Kinderreime und Ab 
zählverse unter diesem sozialen As 
pekt betrachtet, erfüllen sie eine nicht 
unbedeutende Aufgabe. Dazu noch 
einmal Peter Rühmkorf; «Durch den 
Vers regeln sich die Beziehungen der 
Kinder untereinander im Guten wie 
im Bösen. ... Die Sublimierung ins 
Humane spüren wir selbst dort noch, 
wo der Vers auf ersten Anschein alles 
andere als Bezähmung predigt. An 
feuerungen zur Schlacht, blutige An 
drohungen und Verwarnungen sind 
zwar im Kinderreim sowohl die Regel 
wie die Lust, den Partner in die Enge 
zu treiben. Nur dass die verbale Pro 
vokation dann doch eben eine Trieb 
abfuhr ins Harmlosere bedeutet und 
über das Medium der Poesie die Lust 
an Gewalttat zu spielerischem Wett 
streit sich wandelt.» 2 
Heute muss diese Einschätzung über 
die soziale Bedeutung der Kinder 
verse relativiert werden. Obwohl es 
eine ganze Reihe von Sammlungen 
mit Kinderreimen gibt - stellvertre 
tend möchte ich das Standardwerk 
«Brauchtum in Liechtenstein» von 
Adulf Peter Goop anführen 3 -, kennt 
die jüngere Generation dieses alte 
Kulturgut oft nur noch vom Hörensa 
gen. Die Kinder unserer Zeit müssen 
somit ihre sozialen Machtkämpfe, sei 
es gegenüber Gleichaltrigen oder den 
paar übrig gebliebenen Autoritäten, 
mit anderen Mitteln austragen ... 
Doch genug der Theorie! Blicken wir 
zurück in eine Zeit, in der sich «über 
das Medium der Poesie die Lust an 
Gewalttat zu spielerischem Wett 
streit» wandelte. 
Gereimtes und Ungereimtes aus der 
Kinderstube von vorgestern 
Scherzhafte Bosheiten - derber Spott 
Wie in der Einleitung bereits festge 
halten, dienten Kinderverse in hohem 
Masse als Ventil, um den Unmut ge 
genüber Spielkameraden oder Er 
wachsenen zu dämpfen. Es erstaunt 
deshalb nicht, dass Reime und Verse 
mit eher derbem oder leicht boshaf 
tem Inhalt zahlenmässig deutlich 
überwiegen. Da werden dann Namen 
verballhornt oder mit möglichst gro 
ben Ausdrücken echte Schläge durch 
verbelle Attacken ersetzt. 
Sehr oft war der Spott so angesetzt, 
dass er buchstäblich in die Hose ging: 
Badescht 4 , Badescht, 
häscht d Hosa voll Mescht! 
Jedes Kind hatte in seinem Sprüche 
repertoire eine Reihe handfester Be 
griffe, und man wartete nur darauf, 
diese - eingekleidet in ein «harmloses» 
Sprüchlein - zum Besten zu geben: 
H und du und d Dorathee 5 
händ danand uf d Schnorm gee. 
Die folgende kleine Moritat erinnert 
gar an alttestamentlichen Bruder 
mord; 
Peter und Paul 
hauend anand ufs Maul. 
Dr Peter nümmt an Löffel 
und haut äm Paul ein Bötzel 6 . 
Der Paul nümmt s Brot 
und haut dr Peter tot. 
Neben den Spielgefährten, die teils 
wegen ihres Namens, teils wegen ih 
rer Eigenheiten Ziel von Foppereien 
wurden, konnten auch völlig ah 
nungslose Personen, mit Vorliebe Er 
wachsene, zu Opfern kindlicher Aus 
gelassenheit werden. 
Klopfte ein Besucher an die Tür, 
konnte es verkommen, dass er mit fol 
gendem «Willkommensgruss» emp 
fangen wurde: 
Herein! 
's wird wohl kein Geissbock 
draussen sein! 
Schliesslich bekamen bekannte Per 
sonen, etwa der Briefträger, der 
Stromableser oder der Kaminfeger, 
ebenfalls ihr Fett weg: 
Kämmefäger, schwarza Maa, 
hätt a dräggegs Hämple aa. 
Wenn jedoch Autoritätspersonen - 
früher waren das Pfarrer, Vorsteher 
und Lehrer - Ziele der kindlichen 
Spässe wurden, kannte der Übermut 
kaum Grenzen. Die Sprüchlein dazu 
liess man jedoch wohlweislich nur im 
Kreise Gleichgesinnter zirkulieren. 
Das sportliche Schreiten der Lehrer 
wurde folgendermassen veräppelt; 
Linggs, rächts, linggs, rächts, 
hinderem Lehrer stinggts rächt! 
Nicht besser erging es der Hohen 
Geistlichkeit. Keine «heilige Scheu»
	        

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