Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2002) (2002)

sensein tief in ihr Herz schleiche. Be 
sonders die Wintermonate machten 
ihr zu schaffen. Die schneeverwehte 
Winterlandschaft empfand sie als 
trostlos. Das trübe, lange Nebelwetter 
rief eine düstere Stimmung in ihr her 
vor. Im Frühjahr 1898 fiel sie in geisti 
ge Umnachtung. Sie bot das Bild 
einer katatonischen Schizophrenen. 
Doch ihr Zustand könnte noch andere 
Gründe als die Einsamkeit gehabt ha 
ben. So schrieb ihre Schwester Emma 
in einem Brief an ihren entfernten 
Verwandten Alois Rheinberger in 
Amerika: «Unsere geliebte älteste 
Schwester Hermine wurde plötzlich 
geisteskrank ... Sie, die so intelligen 
te, geistreiche, immer fröhliche! Sie 
war besonders in der Schriftstellerei 
begabt und hatte ein Buch <Guten- 
berg-Schalun> veröffentlicht, worüber 
sie allgemeine Freude erntete, bis an 
eine für sie ungünstige Kritik, welche 
sie so ernst, tief und schwer aufnahm, 
dass sie nicht mehr zu trösten war ... 
Dazu kam noch, dass sie in die Hände 
eines ungeeigneten, egoistischen Ver 
legers geriet, welcher ihr immer wie 
der vorgab, das Buch hätte keinen Ab 
satz ,..» 7 
Ruine Schalun oberhalb von Vaduz. 
Blick nach Nordwesten. Im Hinter 
grund das Schweizer Rheintal. 
Aquarell von Moriz Menzinger, 1867 
Nach Angaben von Herrn Dr. Rudolf 
Rheinberger, Vaduz, hatte Hermine 
die «Gartenlaube», eine damals be 
liebte Zeitschrift, abonniert. Als sie 
den Rat ihres Beichtvaters, das Abon 
nement aufzulösen, nicht befolgte, 
habe er die Absolution verweigert. 
Von da an sei die geistige Verände 
rung eingetreten. Eine andere Erklä 
rung könnte eine starke Kopfgrippe 
sein, die Hermine hatte, bevor sie 
geisteskrank wurde. Während dieser 
Grippe schlief sie tagelang und war 
auch durch Nadelstiche nicht mehr 
zu wecken. Anschliessend sei dann 
die geistige Veränderung da gewesen. 
Doch Hermines Äusserungen, die sie 
in verschiedenen Briefen über einen 
längeren Zeitraum gemacht hatte, las 
sen eher auf eine Schizophrenie 
schliessen. Für diese Krankheit spre 
chen auch das Alter von 33 Jahren, die 
hohe Intelligenz und eine erbliche Be 
lastung von Seiten der Mutter. 
samkeit gewesen sein, mit der sie 
nicht umgehen konnte. Hermines 
Schwester Olga wohnte von 1892 bis 
1897 in München bei ihrem Onkel. 
Emma war schon längere Zeit im 
Harz, und Bruder Egon begab sich im 
März 1897 auf eine ausgedehnte 
Italienreise, die fast ein Jahr dauerte. 
Der so menschenliebenden, ansons 
ten immer fröhlichen Hermine man 
gelte es an Geselligkeit. Sie zog sich 
immer mehr in ihre eigene Welt zu 
rück und fand Trost und Halt in ihren 
Büchern. Sie war Kontakte nicht 
mehr gewohnt. «Neulich kam s'Mimi 
und holte mich zu einem Spaziergang 
ab. Ich musste auch meine Ansichten 
äussern und dann kam mir meine 
Stimme ganz fremd vor. Darüber bin 
ich ordentlich erschrocken, es kehrt 
aber auch keine Seele im roten Haus 
mehr ein.» 6 
Mit Olga unterhielt Hermine ständi 
gen Briefverkehr, und in diesen Brie 
fen vertraute sie sich ihrer Schwester 
gelegentlich an. Sie erzählte Olga von 
ihren oft so schwarzen Gedanken, von 
der Feere des Hauses, die unvorstell 
bar sei, und wie sehr sich das Verlas
	        

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