Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2000) (2000)

Leonhard Vogt (1934) 
Nachdem ich langsam in die Jahre gekommen bin, mag es wohl nicht erstaunen, dass sich 
meine gedankliche Auseinandersetzung mit meiner Heimatgemeinde mehr auf die 
Jugendjahre als auf Zukunftsperspektiven bezieht. Die Entwicklung der letzten fünfzig 
Jahre macht es schwer, Kindheits- und Jugenderinnerungen mit der Gegenwart zu ver 
binden. Zu vieles hat sich verändert, aber andernorts gibt es die Lebensweise meiner 
Kindheit und Jugend noch. 
Es war im Frühjahr 1995. Meine älteste Tochter hatte in Siebenbürgen soeben ihr Prakti 
kum beendet. So beschlossen wir, meine Frau und ich, mit der Tochter den Abschluss 
ihi 'es Praktikums mit einer Rumänienreise zu feiern. Wir mieteten ein Auto und fuhren 
durch die Bukowina an die Grenze zur Ukraine. Am Morgen und am Mittag liefen alle 
Männer und Frauen, Hacken und Hauen geschultert, aufs Land, um dort in harter Hand 
arbeit die Felder zu bestellen. Alte Frauen und Kinder hüteten das Vieh. In den Dörfern 
besiedelten Hühner, Gänse, Enten und Ziegen die Strassen. Am Abend lud uns eine Bäue 
rin in ihr Haus zum Übernachten ein und bot uns die Stube zum Schlafen an. Das Geld 
zum Einkäufen der Milch mussten wir vorstrecken. Zum Nachtessen gab es Milch und 
Suppe. Das Abendprogramm bildete allerorten ein Schwatz auf dem Bänkchen vor dem 
Haus. Am Morgen wurden wir durch den Schrei der Hähne geweckt. Wir wuschen uns in 
einem Holzzuber unter dem Baum vor dem Haus. Das Leben in den Dörfern der 
Bukowina verläuft noch gleich wie vor fünfzig Jahren in meiner Heimatgemeinde. So 
wurde die Reise für mich zur Rückschau auf das Balzers von gestern. 
Die Idylle trügt. Meine Generation ist in Balzers in einfachsten Verhältnissen aufgewach 
sen - in einer klassenlosen Gesellschaft. Alle hatten damals wenig, wenn auch einige 
noch weniger als die anderen. Verhungert ist niemand, reich geworden auch nicht. Vieles 
am Leben war schön und bereichernd, aber die persönlichen Verhältnisse zwischen den 
Menschen waren komplizierter. Man war stärker aufeinander angewiesen, stärker von 
einander abhängig. Die Enge führte oft zu lebenslangem Streit. Der Ausbruch aus der 
früheren Enge der dörflichen Gesellschaft in die heutige Offenheit hat den Jungen viel 
gebracht. Sie haben aber auch viel gegenüber früher verloren. So weiss ich denn nicht, 
ob das Balzers von gestern, heute oder morgen das bessere war, ist oder sein wird.
	        

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