Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1995) (1995)

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Insgesamt ist die in Balzers wie an 
dernorts beklagte Zersiedelung eine 
der nachhaltigen und fragwürdigen 
Folgen des Wirtschaftswachstums 
der Nachkriegszeit. Solche Folgen 
sind - negativ betrachtet - ausserdem 
die Landverschwendung durch die 
Zersiedelung sowie die geographi 
sche Verteilung der Arbeitsplätze, die 
einen täglichen Nomadismus be 
trächtlicher Teile der Dorfbevölke 
rung vom Wohn- zum auswärtigen 
Arbeitsort bedingt. Die erforderlichen 
Verkehrsanlagen (Strassen, Parkplät 
ze, etc.) fordern einen hohen ökologi 
schen Preis, auch weil verbleibende 
naturnahe Räume dadurch gleichsam 
parzelliert und voneinander abge 
grenzt werden. 
Behörden 
Das Wachstum und die zunehmende 
Differenzierung in jedem Bereich üb 
ten einen Druck auf die verantwortli 
chen Behörden aus, die einen regle 
mentierenden Einfluss nehmen 
mussten. An vielen Ecken und Enden 
wurden Probleme entdeckt, welche 
direkte Folge der wirtschaftlichen Ex 
pansion und der dadurch bewirkten 
Veränderungen von Wirtschaft und 
Gesellschaft waren. Auch die Gemein 
de musste innert weniger Jahre einen 
Behördenapparat und eine funktio 
nierende Infrastruktur aus dem Bo 
den stampfen. Dies alles hat zur Folge, 
dass der Mensch zwangsläufig büro 
kratisch erfasst, in regulierte Proze 
duren verwickelt und manchmal als 
Nummer oder gar als «Fall» behan 
delt und ablegt wird. 
Mobilität 
Mit dem wirtschaftlichen Auf 
schwung und der Siedlungsvergrös- 
serung Hand in Hand ging der Zuge 
winn an Mobilität, die sich vorder 
gründig in erster Linie im Moto 
risierungsgrad der Gesellschaft aus 
drückt. Für manchen erscheint es 
schon unzumutbar, zu Fuss in die 
Kirche oder ins Wirtshaus zu gehen 
oder nicht mit dem eigenen Auto an 
den Arbeitsplatz fahren zu können. 
Zählte man 1963 in Balzers 215 Perso 
nenwagen, waren es 1970 schon 627, 
1980 fast 1’400 und 1993 schliesslich 
fast das Zehnfache von 1963, nämlich 
2'032. Man ist mobil zwischen den 
Orten von Wohnen, Arbeit, Konsum, 
Freizeit und Ferien. 
Die mit dem wirtschaftlichen Auf 
schwung sich verstärkende Motori 
sierung bedingte einen raschen Aus 
bau des Strassennetzes. Die unver 
zichtbare Strasse, früher ein Ort der 
Kommunikation und der Begegnung, 
wird heute als eine Quelle der Gefähr 
dung und Belästigung empfunden. 
Noch vor rund 30 Jahren war der 
grösste Teil der Strassen und Wege 
ohne Asphaltbelag und ohne Pflä- 
sterung, was ab etwa 1960 schnell 
nachgeholt wurde. Auf der Grundlage 
einer generellen Strassenplanung 
wurden neue Strassen errichtet, alte 
verbreitert und mit Trottoiren verse 
hen. Den Rhein überspannte bald 
eine neue Brücke, der Durchgangs 
verkehr konnte «dank» einer Um 
fahrungsstrasse aus dem Dorf gezo 
gen werden. Das Auto wurde vom 
Luxusgut zum Allerweltsgut, dessen 
Kauf heutzutage für viele keine Ko 
stenfrage mehr ist. Das Auto ermög 
lichte den Pendlerverkehr, das Ein 
käufen im Ausland, es befreite gleich 
sam aus der dörflichen Enge. Die 
Autozahl in Balzers hat sich seit den 
frühen Sechzigerjahren fast verzehn 
facht, während die Bevölkerung 
«nur» um rund 80% Prozent an- 
wuchs, sich die Zahl der Wohnungen 
aber immerhin fast verdreifachte - 
Zahlen, die wichtige Indikatoren des 
gesamtgesellschaftlichen Wandels 
sind. Einer der zentralen Aspekte der 
Veränderung des Lebensstils dank 
der Mobilität ist die Aufhebung des 
ehemals engen Bezuges zwischen 
Wohn- und Arbeitsplatz. 
Die neue Mobilität hatte neben dem 
Aspekt der physischen Fortbewegung 
verschiedene andere Konsequenzen. 
Jeder Ort wurde leicht und fast jeder 
zeit erreichbar. Die Einkaufszentren 
in der nahen Schweiz konnten aufge 
sucht werden, dafür gingen die früher 
in Balzers recht zahlreichen kleinen 
Dorfläden teilweise ein. Das Konzert 
in Feldkirch, St. Gallen oder Chur 
konnte jederzeit besucht werden. 
Man war nicht mehr auf die 
Vereinsveranstaltungen im Dorf an 
gewiesen, zumal sich gleichzeitig die 
Fernsehapparate, die einen trügeri 
schen Zugang zur weiten Welt vermit 
telten, in den Stuben auszubreiten 
begannen. Die Notwendigkeit, sich 
mit dem direkten Nachbarn ausein 
anderzusetzen, wurde immer weni 
ger zwingend. Auch der Bewohner in 
anderen Gemeinden wurde zum 
Nachbarn, leicht erreichbar mit dem 
Auto oder mittels des in den 
Sechzigerjahren jede Haushaltung er 
obernden Telefonapparates. Eine 
weitere Folge der gesteigerten Mobili 
tät besteht in der Lockerung privater, 
familiärer und lokaler Bindungen. Die 
Beziehungsnetze von Verwandt 
schaft, Freundschaft und Kollegialität 
konnten über einen immer weiteren 
Raum gespannt werden. 
Natur 
Die beschriebene Entwicklung setzte 
die Natur- und Kulturlandschaft 
rasch und zunehmend unter Druck. 
Im Bereich der Gemeinde Balzers ver 
stärkte sich dieses Problem punktuell 
noch durch die verstärkte Ausbeutung 
von Rheinkies, was abträgliche Fol 
gen auf den Grundwasserstand hatte 
und damit auf das Bestehen der Auen. 
Naturschutzgebiete wurden geschaf 
fen, die ehemals reich fliessenden und 
dann ausgetrockneten Bäche und 
Giessen künstlich (aber erfolgreich) 
wiederbewässert. Lokale Wasserver- 
sorgungs- und Kanalisationsprojekte 
befassten sich mit den Fragen um 
Wasser und Abwasser; in regionalen 
Verbünden wurden die Probleme der 
Abfallentsorgung angegangen. 
Sozialer Wandel 
Der Aufbau und das Erleben der neu 
en dörflichen Gesellschaft hat ver 
schiedene traditionelle Verhaltens 
weisen verändert, was uns nicht im 
mer bewusst ist. Der eine oder andere 
Bereich soll hier gestreift werden, 
wobei diese Bereiche nicht speziell 
unser Dorf Balzers betreffen, sondern 
- weil die Prozesse der Veränderung 
und des Wandels übergreifend, ja uni 
versell sind - auch für andere Gemein 
den, Regionen und Länder zutreffen. 
Insgesamt werden sie mit den Begrif 
fen Wohlfahrtsstaat und Wohlstands 
gesellschaft charakterisiert, die als 
von Individualismus und einer Ab 
kehr vom Gemeinschaftsdenken ge 
kennzeichnet erscheinen. 
Gemeinschaft und Kommunikation 
Die alte Dorfgemeinschaft, die viel 
fach den Ruf eines Ortes der Enge und 
des geistigen Zwanges hat, gestattete 
dem Einzelmenschen kaum Platz für 
eine Privatsphäre; das Familienleben 
und das Leben waren bestimmten 
Regeln unterworfen. Hierarchie und
	        

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