Günther Boss
sich in einer solchen Klosteranlage in sehr grosszügigen, hellen und
«menschenfreundlichen» Räumen. Der Gastbruder weist einem ein ein-
faches, aber stilvolles und geräumiges Zimmer zu. Man kann sich inner-
halb oder ausserhalb der Klosteranlage ganz frei bewegen. Mein Lieb-
lingsraum im Kloster Disentis ist gar nicht so sehr die schöne Barock-
kirche St. Martin — Kunstkenner mögen mir verzeihen —, sondern der
grosse Speisesaal der Mönche, der im Stil eines Gebirgsklosters ganz in
Holz gestaltet ist. Dass bei den Benediktinern beim Essen meistens
Schweigsamkeit herrscht, empfinde ich als eine weitere Wohltat. Man
muss nicht reden. Wie heilsam kann das sein, in unserer Zeit der ständi-
gen Geschwätzigkeit und öffentlichen Selbstdarstellung! Man kann sei-
nen eigenen Gedanken nachhängen oder der Stimme des Tischlesers fol-
gen. Ausserdem war der Lesesaal, in dem Zeitungen und Zeitschriften
aus allen Teilen der Welt aufliegen und immer ein Schwatz mit den Mön-
chen möglich ist, eine Entdeckung. Sogar einen gestimmten Konzertflü-
gel von Bösendorfer gibt es in der Aula des Klosters, und ich durfte
jederzeit darauf spielen. Ein Benediktinerkloster ist also ein grosszügiger
Raum voller Leben und Kultur.
Die Gestaltung des Raumes ist — nebst der Gestaltung der Zeit — ein
ganz wichtiger Aspekt der benediktinischen Lebensform. Wenn ich hier
den Lesesaal oder den Flügel erwähnt habe, zeigt dies auch, dass ein Be-
nediktinerkloster sozusagen ein permeables, offenes System ist. Das In-
nen und das Aussen bedingen sich gegenseitig. Das Kloster ist ein um-
grenzter Raum, aber offen für Kultur, Inspirationen und Menschen aus
allen Richtungen; es hat in diesem Sinne eine starke Integrationsfähigkeit.
Der oft gehörte Vorwurf, Mönche oder Priester würden ja das echte Le-
ben nicht kennen und von der Welt nichts mitbekommen, trifft selten zu.
In einer solchen Klostergemeinschaft kommt eine Fülle an Berufen, Cha-
rismen, Typen und Nationen zusammen, sodass man das Leben in allen
Schattierungen mitbekommt. In der Gemeinschaft finden gelernte
Schreiner, Krankenpfleger, Grafiker, Physiker oder andere Berufe zu-
sammen. Informationen über den Lauf der Welt, über Politik, Kultur
oder Wirtschaft erfährt man in einem Kloster oft rascher als in der Welt
«draussen». Unter den Gästen sind Suchende, Schriftsteller, Zweifler,
Prominente ... Dies alles führt dazu, dass ein solches Kloster ein organıi-
sches Gebilde mit einer beachtlichen kulturellen Vielfalt sein kann.
Auch diese spezifische Gastfreundschaft der Benediktiner geht
zurück auf die Benediktusregel. In Kapitel 53 wird dort gefordert: «Alle
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