Volltext: Ein Bürger im Dienst für Staat und Wirtschaft

Die Wahlbeteiligung mit 43 Prozent stieg zwar kaum, das Interesse blieb enden wollend, nicht einmal die gehypte Idee der sogenannten «Spitzen- kandidaten» – ein Wort, das mittlerweile sogar als deutsches Lehnwort in die englische Sprache (FT, Economist) einging – fand ausserhalb des deutschen Sprachraums Beachtung. Dennoch bleibt diese Europäische Union das wohl interessanteste Projekt nach den Weltkriegen. 70 Jahre Frieden! Statt Krieg gibt’s höchstens sportliche Kämpfe wie die Fussball- EM, Wettstreit beim Eurovisions-Songcontest, oder den wirtschaftli- chen Wettbewerb, dazu einen Wildwuchs an Rankings und Ratings. Seit der Gründung der Union hat sich ihr Wirtschaftsgewicht ver- vierfacht, die Bevölkerung verdreifacht, und zusätzlich sind rund eine Milliarde Menschen in festen vertraglichen Strukturen mit ihr verbun- den. Dabei tritt ein interessantes Phänomen auf – während sich im Kern der Union Lethargie, Desinteresse, Bürgerfrust breitmacht, ist ihre Anziehungskraft an der Peripherie völlig ungebrochen. In den Balkan- ländern, Ukraine, Moldawien, Kaukasus, aber auch im südlichen Mittel- meerraum sehnen sich hunderttausende Menschen danach, möglichst rasch Mitglieder dieses Klubs zu werden. Zehntausende Flüchtlinge erreichen jedes Jahr das «gelobte Land», Tausende sterben tragischer- weise im Mittelmeer. Es sind bedrückende TV-Bilder, wenn Dutzende Schwarzafrikaner in schwindelerregender Höhe die Zäune in Ceuta und Melilla zu überwinden 
versuchen. Europas Stärken Die EU ist Normungsweltmeister – sie setzt heute, oft zum Ärger der globalen Konkurrenz, weltweit die meisten Standards und technische Vorschriften, die für die Industrieproduktion entscheidend sind. Die Union sieht sich selbst als «soft power» und führend in der Entwick- lungszusammenarbeit. Die Europäer sitzen auf einem kulturellen Reich- tum von Hunderten Sprachen und Dialekten; jede einzelne wiederum ein Schatz von unzähligen Mythen, Sagen, Geschichten und Erzählungen, Klängen, Musik und Tönen. Warum verfestigt sich dennoch der Eindruck von Schwäche, Streit, Unentschlossenheit oder Nabelschau? Man könnte dafür drei Gründe nennen: in unserer Welt zählen neben wirtschaftlicher und kultureller Stärke auch und noch immer Masse, Militär und Macht. Und das heisst – es zählen Demographie, Armee und Lautstärke. 104Wolfgang Schüssel
	        

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