den Verfassungen und weiteren Menschenrechtserklärungen nachgeholt. Die Unvollständigkeit der Erklärung war schon deshalb kein Problem, weil sie die Freiheit an sich und generell verkünden wollte. Art. 5 enthält nämlich eine allgemeine Freiheitsvermutung:8 «Das Gesetz hat nur das Recht, solche Handlungen zu verbieten, die der Gesellschaft schädlich sind. Alles, was durch das Gesetz nicht verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann genötigt werden, zu tun, was das Gesetz nicht verordnet.» Dieses sog. liberale Prinzip hatte im Ancien Regime gerade nicht gegol- ten («Was nicht erlaubt ist, ist verboten»). Es ist im Gesetzmässigkeits- prinzip verkörpert. In einer alten Formulierungen des schweizerischen Bundesgerichts wird das so ausgedrückt: «Enthält das Verwaltungsrecht keine Beschränkung der individuellen Betätigung, so besteht eben Frei- heit.»9 Bedeutsam war in der Erklärung auch die Schrankenregelung von Art. 4 der Déclaration: «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem andern nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Men- schen hat also nur die Grenzen, die den andern Mitgliedern der Ge- sellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichert. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.» Art. 4 geht auf Vorschläge von Abbé Sieyès zurück, der argumentierte, «Freiheit könne nie grenzenlos sein und finde ihre Schranke stets in der Freiheit des Nächsten».10Es ist nach der Rechtsprechung des Staatsge- richtshofes die Aufgabe des Gesetzes, diese Schranke zu ziehen. 16Andreas
Kley 8 Vgl. Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 307. 9BGE 46 I 215, vgl. auch 47 I 215, 97 I 355. 10Sieyès Emmanuel Joseph, Einleitung zur Verfassung, Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte. Am 20. und 21. Juli 1789 im Verfas- sungsausschuss verlesen, in: ders., Politische Schriften 1788–1790, 2. Aufl., Mün- chen / Wien 1981, S. 239 ff., S. 247; Hafen Thomas, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyès, Diss. St. Gallen, Bern 1994, S. 125. 56