Nationalstaaten und Europäische Union —
historische Vorbilder für eine staatspolitische
Innovation?
Dieter Langewiesche
Vorbemerkung
Die Tagung, deren Ergebnisse in diesem Buch dokumentiert werden,
war vergleichend angelegt, um die Besonderheiten der EU bestimmen zu
können. Der Vergleich kann auf bestimmte Aspekte der politischen
Ordnungen bzw. auf einzelne Verfassungsmerkmale zielen oder er kann
die politische Ordnung als Ganzes in den Blick nehmen. Beide Arten des
Vergleichs sind in diesem Buch vertreten. Das erklärt zumindest teil-
weise die unterschiedlichen Ergebnisse. Wer einzelne Bestimmungen ei-
ner bündischen Verfassung mit dem EU-Regelwerk vergleicht, kann Ge-
meinsamkeiten feststellen, während dieser Aufsatz, der auf die Gesamt-
ordnung blickt, die historische Unvergleichbarkeit der EU nachzuwei-
sen sucht.
Eine erste Fassung dieses Textes ist erschienen in: Zeitschrift für
Staats- und Europawissenschaften 7 (2009) H. 3-4, S. 348—363.
Bietet die Staatengeschichte Vorbilder für die EU, die es ermôglichen,
diese «grósste Erfindung unserer Zeit» (Dieter Grimm!), angemessen zu
verstehen und ihre Entwicklungspotenziale vor dieser geschichtlichen
Folie einzuschätzen? Wer diese Frage bejaht, pflegt die institutionelle In-
tegration Europas in Analogie zu drei Staatsmodellen zu betrachten, die
sich in den vergangenen Jahrhunderten identifizieren lassen: (a) der Na-
tionalstaat — vor allem in seiner föderativen Gestalt, (b) Staatenbund ver-
sus Bundesstaat — ein Spannungsfeld mit gleitenden Ubergingen, (c) der
Bund als eigenständige, historisch erprobte Ordnung, die sich sowohl
1 Dieter Grimm, Die grösste Erfindung unserer Zeit, in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 16.6.2003, S. 35.