Volltext: Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte

Europäische Integration als föderaler Prozess 
längsten «Europa-Urteil> des Bundesverfassungsgerichts aller Zeiten** 
wird der Europäischen Union im Wesentlichen negativ «dekretiert», was 
sie nicht ist und was sie nicht sein soll. Es findet praküsch eine «Ab- 
standsmessung» gegenüber nationalstaatlichen Fóderalismusvorbildern 
statt, eine Art «Skalierung» der Europäischen Union an der Messlatte ei- 
nes sehr spezifischen, etatistisch geprägten Bundesstaats-Staatenbund- 
verständnisses. Das wird den Besonderheiten der europäischen Integra- 
tion nicht gerecht und lässt ein generell überholtes Verständnis von Sou- 
veränität und Selbstbestimmung erkennen. Wie soll denn auf der euro- 
päischen Ebene «souveräne Selbstbestimmung» überhaupt funktionie- 
ren? Wenn, dann doch nur im Zusammenwirken mit den anderen Mit- 
gliedstaaten der Union, den direkt gewählten Vertretern des Europäi- 
schen Parlaments, der Europäischen Kommission und anderen unab- 
hängigen Einrichtungen wie etwa der Europäischen Zentralbank. Sou- 
veräne «Herren der Verträge» sind die Mitgliedstaaten also zunächst ein- 
mal gemeinsam handelnd, sozusagen im «Positiven»; einzeln handelnd 
kommt ihnen eine «Herrschaft über die Verträge» allenfalls im «Negati- 
ven» zu, namlich bei der auch vom neuen Lissabon-Vertrag vorgesehe- 
nen Möglichkeit, aus der Union wieder auszutreten.^ Nur insoweit mag 
man noch von einem einseitig bewirkten Akt «souveräner Selbstbestim- 
mung» sprechen. 
3. Die Europäische Union als post-nationale Föderation 
jenseits von Bundesstaat und Staatenbund 
Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, an dem das Gericht trotz ei- 
niger Korrekturen in jüngster Zeit'é dem Grunde nach festhält, wird den 
historischen, politischen und rechtlichen Besonderheiten der europäi- 
44 Die Entscheidung ist doppelt so lang wie das Maastricht-Urteil und seine mündliche 
Verkündung nahm 2 1/2 Stunden in Anspruch. 
45 Steiger, Anm. 38. 
46 Nach der Mangold-Entscheidung vom 6. Juli 2010 (BvR 2661/06) will das Bundes- 
verfassungsgericht im Unterschied zu seiner bisherigen Rechtsprechung eine «Ul- 
tra-vires-Kontrolle» des Gemeinschaftsrechts nur noch dann in Anspruch nehmen, 
wenn das in Frage stehende Handeln der Unionsgewalt «offensichtlich kompetenz- 
widrig» und dies im Kompetenzgefüge zu einer «strukturell bedeutsamen Verschie- 
bung» zu Lasten der Mitgliedstaaten führt (Leitsatz 1 der Entscheidung); vor der 
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