Stefan Oeter
rangement des Deutschen Reiches von 1871 bis 1918 aufweist? Der Mi-
nisterrat der EU ähnelt in Zusammensetzung und Funktion stark dem
Bundesrat der Bismarck-Verfassung — er reprásentiert die Ministerialbü-
rokratien (und Vollzugsverwaltungen) der verbZndeten Regierung und
bündelt insofern die bürokratisch-administrativen Ressourcen der Mit-
gliedstaaten für eine Teilhabe am Prozess der Setzung gemeinsamer Nor-
men.?! Das Europàische Parlament dagegen hat in Funktion und Kom-
petenzen heute eine starke Áhnlichkeit mit der Stellung des Reichstages
unter der Bismarck-Verfassung.? Das Reich war bekanntermassen keine
parlamentarische Demokratie - der Reichstag hatte keinen direkten Ein-
fluss auf die Regierungsbildung und das Regierungshandeln, denn der
Kaiser allein ernannte den Reichskanzler und nur er konnte ihn auch
wieder abberufen. Der Reichstag konnte dem Reichskanzler zwar sein
Misstrauen aussprechen, konnte die Reichsregierung aber nicht wirklich
stürzen. Zentrale Handlungsfelder des Reichstages waren vielmehr die
Gesetzgebung und das Haushaltsrecht (áhnlich wie beim Europäischen
Parlament).9 Über die starke Stellung des Reichstages als Gesetzge-
bungsorgan war die Teilhabe der bürgerlichen Gesellschaft an der
rechtsstaatlich zentralen Setzung formeller Gesetze gesichert, über das
Haushaltsrecht bestand eine Kontrolle der Reprásentanten der Gesell-
schaft über die Verwendung der öffentlichen Mittel. Beide Repräsenta-
tivkôrperschaften — EP wie Reichstag — stellen Verkorperungen des Mo-
dells eines stark auf Kontrolle der Exekutive zentrierten Parlaments dar,
das keine direkte Teilhabe an der Regierungsgewalt hat.>
4. Stellung der Kommission als Sonderproblem
Als sperrig erweist sich für derartige historische Analogien die Stellung
und Funktion der Kommission. Die Kommission stellt eine Schöpfung
sui generis dar, derer es praktisch völlig an historischen Vorbildern in der
50 Vgl. in diesem Sinne A. Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsver-
fassung von 1871 — Vom dualistischen zum transnationalen Fóderalismus, Berlin
1999, S. 35 ff., 125 ff., 144 ff., ferner S. Oeter (o. Anm. 16), S. 678 ff
51 S. Oeter (0. Anm. 16), S. 680 f.
52 Ebda., S. 681 ff.
53 Vgl E. R. Huber (o. Anm. 28), S. 912 ff., 955 ff.
54 . Vgl auch P. Dann (o. Anm. 15), S. 299 ff., 306 ff., 380 ff.
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