Volltext: Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte

Stefan Oeter 
ten) Bundesparlament aus in gleicher und geheimer Wahl gewählten Ab- 
geordneten, dem Reichstag, der sich mit seinem Wahlmodus stark vom 
herrschenden Zensuswahlrecht der mitgliedstaatlichen Parlamente ab- 
hob, verfügte das Reich nun über eine direkt das gesamte deutsche Volk 
reprásentierende parlamentarische Vertretungskórperschaft?* Deren 
Stellung im Institutionengefüge gehorchte allerdings den Grundaxiomen 
des Konstitutionalismus — das Parlament sicherte die Beteiligung der 
bürgerlichen Gesellschaft an Gesetzgebung und Haushalt des Staates; 
die Regierungsgewalt war jedoch nicht durch das Parlament legitimiert, 
sondern leitete sich von der Gewalt des Monarchen ab. Auf der Bun- 
desebene wirkten diese monarchischen Exekutiven zusammen im Bun- 
desrat, der — nach dem Vorbild der Bundesversammlung des Deutschen 
Bundes - als zentrales Beschlussorgan des Bundes konzipiert war, als — 
wenn man so will — die Exekutive oder Regierungsgewalt des Bundes.?é 
Der Reichskanzler mit seinen Sekretariaten war ursprünglich nur als so 
etwas wie die Geschäftstelle dieser bündischen Exekutive gedacht — 
wenn er sich in der Praxis auch sehr schnell von dieser beschränkten 
Rollenzuschreibung emanzipierte, während der Bundesrat der Rollen- 
zuschreibung als eine Art gesamthänderischer Bundesexekutive nie 
wirklich gerecht geworden ist." 
Zu sehen ist diese Anomalie der realen Institutionenordnung auf 
der Folie einer Besonderheit der Konstruktion des Deutschen Reiches. 
Im Kern war dessen bündische Konstruktion geprägt durch eine radikale 
Asymmetrie zwischen den Mitgliedstaaten, beruhend auf der politischen 
Dominanz Preussens im neuen Reich. Mit Ausnahme der beiden gros- 
sen süddeutschen Staaten, die bei ihrem Beitritt 1871 mit einer Reihe von 
Sonderrechten bedacht worden waren, standen der Grossmacht Preus- 
sen, die zwei Drittel des deutschen Territoriums und der Bevölkerung 
umfasste, nur Klein- und Mittelstaaten gegenüber? Angesichts dieser 
  
34 . Vgl nur T. Nipperdey (o. Anm. 17), S. 766, 778 £., ferner im Detail zum Wahlmo- 
dus des Reichstages E.R. Huber (o. Anm. 28), S. 860 ff. 
35 . Vgl E.R. Huber (o. Anm. 28), S. 820 ff., 879 ff. 898 ff. 
36 Vgl ebenfalls E. R. Huber (o. Anm. 28), S. 848 ff. 
37 . Vgl E. R. Huber (o. Anm. 28), S. 852 f., 856 f., ferner T. Nipperdey (o. Anm. 17), 
S. 90. 
38 Siehe E. R. Huber (o. Anm. 28), S. 798 ff. 
39 Vgl auch S. Oeter, Integration und Subsidiaritàt im deutschen Bundesstaatsrecht, 
Tübingen 1998, S. 42. 
158
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.