Volltext: Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte

Stefan Oeter 
verpasst wurde? war klar in Kategorien eines traditionellen Etatismus 
gedacht, mit dem Nationalstaat als primárer, quasi vorausliegender poli- 
üscher Einheit, und der EU als Ebene neuer, nur abgeleiteter politischer 
Gewalt.! Doch selbst dieser Begriff enthált — in seinem Kernbestandteil 
des Verbunds — schon semantisch die Grundelemente des bindischen 
Systems. Anderen Strômungen der deutschen Doktrin fällt es dagegen 
nicht schwer, die Europäische Union als ein — auch schon im engeren 
Sinne — fôderales Gebilde zu begreifen, ja als Bundesstaat im Werden. 
Zentrale analytische Folie ist dabei die Verfassung des ersten deutschen 
Bundesstaates, des von Bismarck konzipierten Reiches von 1867/71, 
aber auch die ersten Konstruktionen einer föderal organisierten Eidge- 
nossenschaft, insbesondere der Verfassung von 1848.9 Gerade vor dem 
Hintergrund der im Kern vertragsbasierten Einigung der deutschen 
Staaten in einem gemeinsamen Reich liegt es nicht fern, ein Vertragsge- 
bilde wie die EU als ein fôderales System zu begreifen. Gegründet von 
den Mitgliedstaaten per Vertrag, mit abgeleiteter Hoheitsgewalt, aber 
stark verselbständigter politischer Willensbildung, führt dieses politische 
Gebilde sui generis ein erkennbares politisches Eigenleben — und verfügt 
über eine Kompetenzausstattung, die im Rechtsvergleich nicht nennens- 
3 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 — 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, 
3047 ff. 
4 Vgl. zur Kategorie des «Staatenverbunds» nur P. Kirchhof, Europáische Union: Der 
europäische Staatenverbund, in: À. v. Bogdandy /J. Bast (Hrsg.), Europäisches Ver- 
fassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 1009 ff.; R. Streinz, Die Verfassung Europas: Un- 
vollendeter Bundesstaat, Staatenverbund oder unvergleichliches Phinomen?, in: FS 
H. Nehlsen, Kóln 2008, S. 750 ff.; R. Herzog (Hrsg.), Die Europäische Union auf 
dem Weg zum verfassten Staatenverbund, München 2004; P. Hommelhoff / M. Hilf 
(Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, Heidelberg 1994. 
5 Siehe nur J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Fôderation — Gedanken über die Fi- 
nalität der europäischen Integration, Integration 23 (2000), 149 ff. 
6 Vgl. hierzu auch F. von Däniken, Die schweizerische Verfassungsgeschichte, Quelle 
der Inspiration für den neuen europäischen Konvent: Quo vadis Europa?, in: 
P. Barblan/ A. Koller (Hrsg.), Die schweizerische Verfassungsgeschichte: Eine 
Quelle von Anregungen für die Zukunft Europas?, Lenzburg 2002, S. 197 ff., ferner 
A. Kólz, Gedanken zu einer europáischen Verfassung, a. a. O., S. 102 ff. 
7 Siehe insoweit nur A. Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfas- 
sung von 1871 — Vom dualistischen zum transnationalen Föderalismus, Berlin 1999, 
S. 35 ff, 125 ff., 144 ff., ferner S. Oeter, Souveránitàt und Demokratie als Probleme 
in der «Verfassungsenwwicklung» der Europáischen Union, ZaóRV 55 (1995), S. 659 
ff., sowie K.E. Heinz, Europäische Zukunft — Bundesstaat oder Staatengemein- 
schaft?, DÓV 23 (1994), S. 994 ff. 
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