Supranationalität in geschichtlicher Perspektive
wurde, die Institutionen- Terminologie. Neue Institutionen konnten so
bis zu einem gewissen Grad als vertraute erlebt werden. Sprachliche An-
schlüsse erleichterten es, vorhandenes Vertrauen zu nutzen — auch bei
Veránderungen, die in der Sache viele nicht wollten. Es sei in Erinnerung
gerufen, dass die Unabhängigkeit während der Critical Period noch viele
Feinde hatte. Indem das Hauptorgan der Konföderation weiterhin
«Kongress» hiess, wurde der Idee nach ein Stück koloniale Infrastruktur,
ein Stück königstreue Ordnung, in die Zeit nach der Unabhängigkeit hi-
nüber gerettet. Die Gegner der Unabhängigkeit mussten sich — zumin-
dest auf der sprachlichen Ebene — an nichts Neues gewöhnen.
Im Fall der europäischen Integration bestand keine Möglichkeit, an
etablierte Institutionen-Bezeichnungen anzuknüpfen. Übersichtlichkeit
wäre hingegen - zumindest theoretisch - erreichbar gewesen. Wie sieht
hier die Realität aus? Es gibt einen Rat der Europäischen Union, einen
Europäischen Rat, eine Kommission der Europäischen Union, ein Eu-
ropäisches Parlament, einen Europarat, eine Parlamentarische Versamm-
lung des Europarates — um nur einige zentrale Institutionen zu nennen.
Bezeichnend ist, dass bei der Erklärung der Institution des Europäischen
Rates niemals der Hinweis fehlt, er dürfe nicht mit dem Europarat ver-
wechselt werden. Mit Übersichtlichkeit hat all dies wenig zu tun. Na-
türlich gibt es «historische» Gründe für diese Situation, doch: Die Be-
völkerung, die die Sprache erlernt, in der über die europäischen Institu-
tionen gesprochen wird, muss sich in einer für sie zunächst kaum ver-
ständlichen Institutionenlandschaft zurechtfinden. Man muss fast Ex-
perte sein, um sie richtig zu verstehen. Wie sollen hier jenes Vertrauen
und jene Loyalität entstehen, auf die politische Institutionen angewiesen
sind, wenn sie schmerzhafte Entscheide treffen müssen? Ich meine, dass
diese Frage für das Verständnis der heutigen Situation der Europäischen
Union wichtiger ist als viele als zentral bezeichnete Fragen zur Institu-
tionenordnung, die die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Politik
absorbieren.
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