«Schwabenkinder» (bis 16 Jahre) hat im gleichen Zeit-
raum von 116 auf 257 zugenommen, sich also mehr als
verdoppelt (Grafik 7). Sozialpolitisch besonders tragisch
war der höhere Anteil an Mädchen: 1815 waren es zehn,
1817 aber 76 Mädchen, die von ihren Eltern ins Schwaben-
land geschickt wurden — wohl sehr ungern, aber durch
die Not gezwungen." Auch dies ist ein Hinweis, dass der
Hunger die Ármsten am schlimmsten getroffen hat.
Das Auswanderungsziel war in den meisten Fällen das
«Schwabenland», wo die Auswanderer bei einem Bauern
als Knecht oder Magd beziehungsweise als Hüterbub oder
Dienstmádchen unterzukommen suchten. In der Not wa-
ren die Fremden in Süddeutschland auch nicht mehr will-
kommen, da man fürchtete, dass sie sich aufs Betteln oder
Stehlen verlegen und überhaupt den einheimischen Ar-
men Konkurrenz machen würden. Das Bezirksamt in
Überlingen richtete deshalb bereits am 25. Juli 1816 ein
Schreiben an das Oberamt in Vaduz mit dem Ersuchen,
Leuten die «zu angeblichen Arbeiten« nach Süddeutsch-
land wollten, keine Pàásse oder Heimatscheine mehr aus-
zustellen.?6 Das Bezirksamt stellte eine deutliche Zu-
nahme von Personen aus Liechtenstein fest, die «unter dem
Vorwand Arbeit zu suchen, sich einzig mit Bettel und Ähren-
sammeln? abgeben» würden. Es sei die Pflicht des Bezirks-
amts, die eigenen armen Landeskinder «von der Last und
Zudringlichkeiten dieser Menschen zu befreien». Die Feld-
und Hausdiebstähle würden zunehmen und der Verdacht
müsse auf die fremden Bettler fallen, «welche oft durch
Noth hiezu veranlasst werden mögen». Das Oberamt in Va-
duz antwortete, dass es das Betteln und Ährensammeln
verbieten werde, dass es aber Leuten, die im Ausland ei-
nem Verdienst nachgehen wollten, die Pässe nicht verwei-
gern könne. Schuppler war nicht bereit, die Schwabengän-
gerei zu unterbinden, da das Land über jeden Armen froh
sein musste, der sein Auskommen im Ausland suchte.
Demographische Auswirkungen
Die Auswirkungen der Hungerkrisen auf die Bevölke-
rungsentwicklung zeigt Grafik 1. Während 1816 noch ein
deutlicher Geburtenüberschuss zu verzeichnen war, gin-
gen 1817 und vor allem 1818 die Geburten deutlich zu-
rück, während die Zahl der Todesfälle stark anstieg
(Grafik 8). Daraus ergaben sich für diese beiden Jahre
Geburtendefizite. Die demographischen Auswirkungen
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 116, 2017
der Hungersnot zeigten sich also erst im zweiten Jahr
der Hungersnot. 1817 und 1818 starben zusammenge-
nommen 149 Personen mehr als geboren wurden. Ge-
messen an der Einwohnerzahl von 1815 ging die Bevöl-
kerungsrückgang um gut zwei Prozent zurück (ohne
Berücksichtigung von möglichen Auswanderungen).
Dies entspricht den Zahlen im Kanton St. Gallen. '®
Wie lange wirkten die Hungerkrisen nach? Grafik 8
zeigt, dass fast immer, wenn die Zahl der Verstorbenen
infolge einer Krise einen Ausschlag nach oben machte
(so 1796, 1800/01, 1806, 1808, 1814 und 1818), die Gebur-
ten ein oder zwei Jahr später deutlich anstiegen (so 1798,
1802, 1807, 1816 und 1819), das heisst der Bevölkerungs-
rückgang wurde schnell kompensiert. Die Hungersnot
hatte keine langfristigen Auswirkungen auf die Bevölke-
rungsentwicklung.
Zu vermuten wäre auch, dass sich die Hungersnot
auf die Zahl der Eheschliessungen negativ auswirkte.
Dies bestätigen die Daten für Schaan, Vaduz und Plan-
ken!?, Mauren!"° und Balzers jedoch nicht. In Vaduz,
Schaan und Planken heirateten 1816 und 1817 sogar un-
gewöhnlich viele Leute, während in Mauren die Zahl ge-
nau dem Trend entsprach (Grafik 9). Die Hungersnot
99 LILARB P1/1817.
100 Ebenda.
101 HLFL, Stichwörter «Auswanderung» und «Abzugsrecht».
102 Alois Ospelt erklärt den grossen Bevölkerungsrückgang von
1815 bis 1818 mit einem Wanderungsverlust von 505 Personen,
andererseits ist in den Akten zwischen 1793 und 1828 lediglich die
Auswanderung von 123 Personen dokumentiert (Ospelt, Wirt-
schaftsgeschichte, S. 57). Ein Wanderverlust von 505 Personen in
den Jahren 1816/17 ist unwahrscheinlich.
103 LILA A1 (1809-1827)
104 Zahlen bei Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, Anhang, S. 109.
105 LILA A1 (1809-1827). Die Zahlen wurden vom Projekt «Schwa-
benkinder», Alter Pfarrhof, Balzers erhoben. 1816 erhielten recht
viele Personen einen Reisepass, bei denen keine Altersangabe ge-
macht wurde. Die Zahl der Schwabenkinder dürfte in diesem Jahr
etwas hóher gewesen sein.
106 LILA RB P1/1816.
107 «Ahrensammeln» im Sinn einer Nachlese von einzelnen Halmen
auf den abgeernteten Feldern war ein altes Recht, das bereits in
der Bibel erwähnt wird.
108 In Liechtenstein starben 1817/18 insgesamt 511 Personen (circa
8 Prozent der Bevölkerung). Im Kanton St. Gallen starben 1816/17
ebenfalls rund 8 Prozent der Bevölkerung, der Bevölkerungsrück-
gang betrug in diesen Jahren 3 Prozent; vgl. Baumann, St. Galler
Geschichte, Bd. 5, S. 13.
109 Verdankenswerterweise wurden diese Daten von Eva Pepic-
Hilbe aufgrund des Pfarrbuchs Schaan erhoben.
110 Kimbacher / Spielbüchler, nicht publizierter Anhang.
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