Volltext: Jahrbuch (2014) (113)

45 Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 113, 
2014 
Gut zu garantieren. Er musste ihnen das «Holz risen und füren» zugestehen, doch «zu den Zyten, das es Ulin Vogt oder sinen Nachkomen ungevarlich syg». Mit dieser For- mulierung wird ausgedrückt, dass beim Abtransport da- rauf Acht gegeben werden sollte, möglichst wenig Scha- den anzurichten.49 Noch heute wird deshalb das Reissen von Schlagholz im Winter vorgenommen, dann wenn der Boden gefroren ist. Eine ähnliche Situation stellten die Alpauffahrten im Frühsommer und die -abfahrten im Spätsommer dar. Das Vieh musste über fremdes Land getrieben und unter- wegs getränkt werden, ohne dass es dort graste. Im Streit der Gemeinden Maienfeld und Fläsch im Gebiet der St. Luzisteig um Weide-, Wasser- und Holznutzung vom 6. August 1476 wurde den Fläschern ein «Trenkwäg . . . zu der Alppfartt» durch Privatgüter zugestanden. Auch in Bezug auf die permanente Wassernutzung wurde eine rechtliche Vereinbarung getroffen. Die Herrschaft bean- spruchte das Wasser, das die St. Luzisteig hinunterfloss, von nun an für sich, und zwar um über die Zuteilung bestimmen zu können. Sowohl die Dorfgenossen von Maienfeld als auch jene von Fläsch mussten künftig jedes Jahr bei der Herrschaft darum nachsuchen, ob sie Wasser für sich ableiten und brauchen durften. Schneefluchtrecht In ausserordentlichen Lagen wurde die Hilfsbereit- schaft und somit die Solidarität nicht nur gegenüber den Angehörigen der eigenen Dorf- und Nutzungsgenossen- schaften, sondern auch gegenüber solchen aus fremden Gemeinschaften auf die Probe gestellt. Ein typisches Beispiel dafür ist das Schneefluchtrecht: Bei plötzlichem Schneefall auf der Hochalp im Sommer waren die Hirten gezwungen, bis zur Ausaperung mit dem Vieh auf tiefere Lagen auszuweichen. Das bedeutete unter Umständen die Beanspruchung von fremden Böden, was mit einem hohen Konfliktpotential verbunden war. Am 25. April 1487 hatte ein Schiedsgericht unter dem Vorsitz von Ludwig von Brandis und Diepold von Schlandersberg zwischen den Gemeinden Maienfeld und Jenins den Streit um Schneefluchtrechte zu schlichten. Die Jeninser vertraten die Meinung, sie hätten das Recht, im Falle von Unwetter mit ihrem Vieh «herab in den Wald in den Bo- den uff Baschgus» zu ziehen und sich dort aufzuhalten. Die Maienfelder bestritten diesen Anspruch der Jeninser mit dem Argument, der Wald gehöre allein ihnen. Die 
Lösung des Konflikts lässt erkennen, dass es wohl weni- ger darum ging, dem anderen solidarische Hilfe in einer Notlage zu verweigern, sondern allfälligen Missbrauch zu verhindern. Den Jeninsern wurde gestattet, «ruches Wätters halben mit irem Viche» von ihrer Alp herab in den Wald zu ziehen und dort zu bleiben, bis das Wetter die Rückkehr in die höheren Lagen wieder zuliess. Es wurde aber ausdrücklich festgehalten, dass es sich um ein Recht handelte, das nur in Not beansprucht werden durfte: Ohne «Ursache söllent die gemelten von Jenins daselbs hin zu varent» kein Recht haben, und sie sollten ansonsten jegliche Nutzung des besagten Waldes und Bodens allein den Maienfeldern überlassen. Die Schnee- flucht von den Hochalpen wurde wohl schon immer von vielen benachbarten Alpgemeinschaften gegenseitig toleriert, ohne dass dies explizit schriftlich festgehalten wurde.50 
Anlass zur Verschriftlichung von Schneeflucht- rechten dürften in erster Linie Missbräuche gegeben ha- ben. Das Schneefluchtrecht ist eine Art Notstandsrecht,51 45  Gmür, Max: Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. Erster Teil: Offnungen und Hofrechte. Erster Band: Alte Landschaft. Aarau, 1903 (SSRQ SG 1/2/4.1), S. 353–360. 46  Gmür, Max: Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. Erster Teil: Offnungen und Hofrechte. Erster Band: Alte Landschaft. Aarau, 1903 (SSRQ SG 1/2/4.1), S. 379–391. 47  In Liechtenstein wurden noch bis ins 20. Jahrhundert die Schwei- ne auf den Alpen «geringelt»; vgl. dazu Frick, Alexander: «Jedes Schwein muss geringelt werden». In: Liechtensteiner Volksblatt, 7. Oktober 1972. 48  Sager, Andreas: Vom «Strassen machen und in Ehren han». Länd- liches Wegerecht in der Ostschweiz des 14.–16. Jahrhunderts. (Maschinenschriftl. Ms.) Zürich, 2013. 49  Siehe auch die Formulierung in Offnung von Gossau SG von 1469, § 20: Während des Winterbanns sollte jedermann ande- ren gestatten, «uß den hoeltzern und velden holtz füeren laus- sen, on hindernuß, doch on grossen schaden». Gmür, Max: Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. Erster Teil: Offnungen und Hofrechte. Erster Band: Alte Landschaft. Aarau, 1903 (SSRQ SG 1/2/4.1), S. 356. 50  Weiteres Beispiel: Am 11. Juli 1474 entscheidet Sigmund von Brandis die auf den Alpen Gritsch und Valüna herrschenden Weidestreitigkeiten zwischen den Gemeinden Schaan und Trie- sen und legt den Grenzverlauf zwischen den beiden Alpen fest, wobei den Schaanern ihre Schneefluchtrechte zugesichert wer- den. Es heisst hier ausdrücklich, dass den Schaanern ihre Schnee- fluchtstege und -wege, wie dies seit altem Herkommen gegenein- ander gehalten werde, weiterhin zugestanden wurden. 51  Vgl. Eintrag «Schneeflucht» im Deutschen Rechtswörterbuch: http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/ (Zugriff am 5. Juni 2014). Ich danke Prof. Dr. Lukas Gschwend, Universität St. Gallen, für Hinweise.
	        

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