Volltext: Jahrbuch (2013) (112)

70Kuratli Hüeblin Jakob: Das Jahrzeitbuch von 
Eschen 
Als der Eschner Pfarrer Kaspar Ammann um das Jahr 1440 ein neues Jahrzeitbuch für seine Kirche anlegte, geschah dies mit der Intention, die schon der Kirchen- vater Augustinus (354–430) formuliert hatte: «Damit die Toten nicht durch das Vergessen aus dem Herzen ge- tilgt werden.»1 Doch nicht nur Pfarrer Ammann, auch die Eschner Kirchgenossen kannten die Notwendigkeit des Andenkens an die Toten. Aus Bildern, Predigten und Erzählungen war ihnen nämlich bewusst, dass ihre ver- storbenen Angehörigen wohl im Fegefeuer harrten und dass sie selber dereinst das gleiche Los erwartete – vo- rausgesetzt, sie führten auf dieser Erde «nicht gerade ein sehr schlechtes» Leben. Im Fegefeuer mussten die Seelen der Verstorbenen qualvolle Strafen erleiden, bevor sie in das Himmelreich eingehen konnten. Aus eigener Kraft – auch das wussten die Eschner – vermochten die Armen Seelen ihre Läuterung nicht zu beschleunigen. Sie waren auf die Hilfe der Lebenden angewiesen, die durch ihr Gebet und ihre Fürbitten eine Strafmilderung erwirken konnten. Schon der heilige Augustinus und nach ihm der Kirchenlehrer Gregor der Grosse (540–604) hatten nachdrücklich auf die Wirksamkeit der Fürbitten für die Toten hingewiesen. Um aber solche Fürbitten überhaupt ‹zielgerichtet› leisten zu können, mussten die Toten na- mentlich in Erinnerung bleiben. Schon seit dem Früh- mittelalter wurden deshalb Personennamen in Memo- rialbücher eingetragen, um sie für das Totengedenken zu sichern. Das Jahrzeitbuch von Eschen stand in die- ser jahrhundertealten christlichen Tradition, die sich im Laufe der Zeit freilich gewandelt hatte.2 Mit dem neu angelegten Jahrzeitbuch wollte Pfarrer Ammann den Eschner Gläubigen ein ‹ewiges› Andenken ermöglichen. In der damaligen Bevölkerung war dies ein grosses Bedürfnis. Da nämlich niemand genau wusste, wie lange die Läuterung im Fegefeuer dauerte, mussten auch die Fürbitten und das Gedächtnis für die Verstor- benen auf unbestimmte Zeit gehalten werden – sicher- heitshalber bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Individuelle Gedächtnis- und Sühneleistungen für einzelne Tote wurden grundsätzlich nicht als Aufgabe der Gemeinde, sondern als Verpflichtung der Angehö- rigen der Verstorbenen betrachtet. Innerhalb der Sippe war ein ‹ewiges› Gedächtnis freilich kaum aufrecht zu erhalten. Kirchliche Institutionen versprachen hier eine wesentlich grössere Kontinuität – und auch eine hö- here Kompetenz. Die Kirche verlangte für individuell 
erbrachte Gedächtnisleistungen allerdings eine Gegen- leistung. Wer sich und/oder seinen Angehörigen ein Andenken sichern wollte, hatte auch für eine entspre- chende Finanzierung zu sorgen. Mit den Personennamen hielt Pfarrer Kaspar Am- mann im Eschner Jahrzeitbuch auch die individuell vereinbarten kirchlichen Gedächtnisleistungen sowie die Art und Höhe ihrer Vergütung fest. Seine Nachfol- ger, die das Buch während mehr als zweihundert Jah- ren weiterführten, taten es ihm gleich. So entstand eine grossartige Geschichtsquelle, die uns Einblicke gewährt in das Leben und Denken der Eschner Dorfbevölkerung im ausgehenden Mittelalter, in ihre Ängste, Hoffnungen und Strategien angesichts einer ungewissen Zukunft im Jenseits. 
«Damit die Toten nicht durch das Ver- gessen aus dem Herzen getilgt werden» Kapitel_2_Kuratli.indd   7011.06.13   15:44
	        

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