Volltext: Jahrbuch (2011) (110)

34Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in 
Liechtenstein 
Greise und Invaliden grösser macht! Die Führer des Volkes, die Regierungen tragen eine grosse Verantwortung, wohl ih- nen, wenn sie rechtzeitig die Mittel und Wege suchen und fin- den, um die soziale Frage zu lösen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!»225 Hermann Renfer schlug für Liechtenstein die Einfüh- rung aller Versicherungszweige vor. Sollte dies, wie wohl zu erwarten war, nicht finanzierbar sein, so könnten die verschiedenen Versicherungszweige etappenweise realisiert werden, gestaffelt nach Häufigkeit des eintre- tenden 
Versicherungsfalles: «... Als dringlich muss die Unfallversicherung, dann namentlich die Kranken- und Invalidenversicherung bezeich- net werden.»226 Die Übernahme der Unfallversicherung durch eine neugegründete staatliche Versicherung hielt Renfer jedoch für zu riskant. Die Schaffung einer liechtenstei- nischen Entsprechung zur Schweizerischen Unfallver- sicherungsanstalt war aber wegen des dafür nötigen unverhältnismässig grossen und komplexen Apparats unwirtschaftlich und kaum realisierbar.227 Die übrigen Versicherungszweige sollten jedoch in einer zu grün- denden «Landesversicherungsanstalt» abgedeckt sein. Diese sollte an die Landeskassaverwaltung angeschlos- sen sein und sich zur Verringerung ihres Risikos im Ausland rückversichern.228 Gerade aufgrund der Klein- heit des Landes und der wenigen Versicherungsnehmer betrachtete Renfer ein allgemeines Versicherungsobli- gatorium als absolute Notwendigkeit. Doch schon bald nach Abgabe des Gutachtens musste die Regierung die ehrgeizigen Pläne begraben. In einem Brief an Dr. Renfer bedankte sich die Regierung daher für die geleistete Ar- beit und schrieb 
weiter: «Die fuerstliche Regierung bedauert nur, dass es im gegen- waertigen Momente bei dem noch immer schweren Stande unse- rer Volkswirtschaft unmoeglich wird, ihre Ideen schon jetzt voll und ganz in die Praxis zu uebersetzen. Immerhin sollen in aller- naechster Zeit ernste Schritte unter-nommen werden, um die all- gemeine Krankenversicherung, beginnend mit dem 16. oder 18. Altersjahre fuer beide Geschlechter durchzufuehren.»229 Selbst eine derart reduzierte Massnahme kam nicht zu Stande. Das ebenfalls in den 1920er Jahren in Angriff ge- nommene Gesetz zur Regelung der Ausübung des Versi- cherungsgewerbes wurde ebenfalls nicht eingeführt, nach- dem der angefragte Experte – wiederum Hermann Renfer – die geplante Regelung als zu komplex beurteilt 
hatte.230 
«Ihre Anfrage, ob im Fürstentum Liechtenstein die Sozial- versicherung allfällig durch Einbeziehung in die schweiz. Einrichtungen eingeführt werden könnte, habe ich mit Herrn Bundesrat Schulthess besprochen. Wir mussten übereinstim- mend feststellen, dass dieser Lösung staatsrechtliche Schwie- rigkeiten entgegenstehen. Dazu kommen noch gewisse poli- tische Erwägungen, so dass es Herrn Bundesrat Schulthess jedenfalls zur Zeit nicht als wünschenswert betrachtet, wenn Ihrem Gedanken weitere Folge gegeben wird.»221 Renfer schien auch ein Anschluss an das private Ver- sicherungssystem der Schweiz gerade im Bereich der Krankenversicherung schwierig. Somit kommt Renfer zum Schluss, dass vor allem ein Weg gangbar sei, näm- lich die «Uebernahme der gesamten Sozialversiche- rung durch das Fürstentum».222 
Dabei war sich Renfer durchaus darüber im Klaren, worin die Probleme dieses Weges lagen: Eine derart umfassende Sozialversicherung war allein von der erwerbstätigen Bevölkerung kaum zu tragen.223 So fasste er seine Ansicht im Begleitschreiben wie folgt zusammen: «Die zweckmässige Lösung der Sozialversicherung verlangt eine äusserst behutsame und weitblickende Behandlung der ganzen Materie. Kein Land darf hierbei einfach die Gesetze des andern abschreiben; diese Eigenart von Land und Volk verlangt verständnisvolle Berücksichtigung.»224 Doch zugleich appellierte Renfer gerade angesichts der herrschenden wirtschaftlichen Not eindringlich an die Regierung, alle möglichen Schritte zu unternehmen, um eine tragfähige Lösung für die Sozialversicherung zu finden: «Durch die ungeheuren wirtschaftlichen Schädigungen des Weltkrieges ist das Erwerbsleben für jeden einzelnen in allen Staaten ungleich schwerer geworden als vor dem Krieg. Die enorme Teuerung aller wichtigsten Bedarfsartikel macht den durch Krankheit, Unfall, Alter oder Tod des Ernährers bedingten Wegfall des täglichen Erwerbs doppelt verhäng- nisvoll, setzt die Betroffenen trotz der Mildtätigkeit anderer Menschen dem bittersten Elend aus. Nie stärker als jetzt fällt allen verantwortlichen Behörden und Regierungsorganen die Pflicht ins Herz, alle Volksklassen zum Sparen, zum Sammeln von Notpfennigen anzuhalten; nie lastete die Verantwortung grösser auf den Schultern der Regierungen, die wissentlich oder aus Schwachheit die Sozialversicherung nicht an die Hand nahmen. Vergessen wir nicht, dass jeder Zeitverlust auch den Verlust grosser finanzieller Mittel bedeutet und dass jedes Zuwarten die Zahl der zur Beitragszahlung unfähigen Kapitel_1_Vogt.indd   3426.07.11   13:44
	        

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