ritual, das sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur
bürgerlichen Bildungsreise weiterentwickeln konnte. Das Gros der
Bildungsbürger der nachfolgenden Jahrhunderte besuchte den
Süden und die Kunstdenkmäler der italienischen Städte und
erwartete ästhetischen Genuss. Dies bestätigt ein Brief, den Egon
Rheinberger am 16. April 1897 an seinen Onkel Josef Gabriel
Rheinberger in München schrieb: «Italien zu sehen und in seinen
Kunstschätzen schwelgen zu können. ..., ich kannte ja schon sehr
vieles aus Photographien, welche aber nur ein schwaches Bild und
eine unbestimmte Vorstellung gegen die Schönheit in Natura her-
vorbringen können, überrascht war ich davon und bin es jetzt
noch.» Diese Zeilen verdeutlichen, dass Egon Rheinberger die Ita
lienreise mit einer bestimmten Erwartungshaltung angetreten
hatte, die von bekannten Vorbildern beeinflusst war. Zu diesen
gehörten beispielsweise Goethe oder Johann Joachim Winckel
mann, der durch sein Werk «Die Geschichte der Kunst des Alter-
tums» als Begründer der wissenschaftlichen Kunstgeschichte gilt
Sie beide und viele andere prägten mit ihren Dokumenten das Ita-
lienbild ganzer Generationen. Mit Sicherheit lernte Egon Rhein-
berger im Rahmen seiner Ausbildung verschiedene dieser Schrif
ten kennen und hat sich daraus ein eigenes Bild von Italien
geschaffen, das, wie das Zitat aus seinem Brief zeigt, in Bezug auf
die Kunstschätze bei Weitem übertroffen wurde.
Mehr als andere Reisen war die italienische Tour während Jahr-
hunderten standardisiert; ihr Verlauf blieb erstaunlich unverän-
dert. Die Routen konnten zwar in die eine oder andere Richtung
verlaufen, verkürzt oder verlängert werden - insgesamt waren die
Variationsmöglichkeiten jedoch gering.
Ende März 1897 trat Egon Rheinberger mit seinem Studien- und
Bildhauerkollegen Georg Wrba eine achtmonatige Italienreise an.
Ermöglicht wurde sie durch ein von Fürst Johann II. bewilligtes
Stipendium, das Rheinberger der Intervention des damaligen
Kabinettsrates Karl von In der Maur und einem Empfehlungs-
schreiben seines Onkels, des königlichen Hofkapellmeisters Josef
Gabriel Rheinberger, zu verdanken hatte.
Gemäss Planung standen Besichtigungen der wichtigsten Städte
und ihrer Sehenswürdigkeiten auf dem Programm. Von Anfang
an war es Rheinbergers Ziel, wenn möglich ganz Italien zu berei-
sen und das für ihn Auffallendste zu skizzieren. Ein eingehendes
Studium war also nicht beabsichtigt. Der Beginn ihrer Reise führte
Fürst Johann II. von
Liechtenstein.
Architekturstudie,
Siena, 18. Juni 1897.
Reisen bildet — Wanderjahre