Volltext: Kleinstaaten in Europa

Erbweg, also über (ggf. auch mit Drohung und Druck durchgesetztes) dynastisches Recht,17erlebte als auf dem Weg der Annexion kleiner, al- lein für sich verteidigungsunfähiger Einheiten. Das in Verbindung mit der Tatsache, dass das europäische System auf territoriale Veränderungen höchst sensibel reagierte und sich Instrumentarien – es sei hinzugefügt: im Kern problematische, vielleicht sogar heuchlerische Begründungsfi- guren – wie etwa die Ideologie des Gleichgewichts der Kräfte oder die Ruhe Europas schuf, um Veränderungen zu verhindern, kamen den Kleinen entgegen. Wenn die Gleichgewichtsmetapher, deren Faszina- tion, wie inzwischen bekannt,18vor allem in ihrer Unbestimmtheit grün- dete, überhaupt eine positive Aufladung hatte, dann war es gewiss die, die Staaten- und kulturelle Vielfalt Europas zu erhalten und auch den Mindermächtigen ein Existenzrecht zu gewährleisten. Die blanke Anne- xion eines Kleinstaats durch einen benachbarten Grossen hätte Europa nach 1648 nicht mehr akzeptiert – und hat es auch vor 1648 nicht ak- zeptiert. Und wenn es von einem die ungeschriebenen Regeln bewusst missachtenden Fürsten wie Ludwig XIV. denn doch einmal versucht wurde – es sei an seine Kriege gegen die Niederlande19oder Genua erin- nert –, dann gab es inzwischen genug politische Öffentlichkeit20und po- litische Solidarität, die hemmungslose Bereicherung eines einzelnen Staates wieder zu korrigieren. Aber in der völligen Sicherheit eines Systems, das den Kleinen nicht zur Disposition Dritter stellte, konnten sich die Kleinen trotzdem nur bedingt fühlen. Die Interessen des benachbarten Grossen konnten durch bestimmte Konstellationen übermächtig werden. Aufschlussreich ist das Beispiel Lothringen: eines ehemaligen Reichsstandes, der sich seit dem frühen 16. Jahrhundert – die markanten Punkte waren 1531 die 86Heinz 
Duchhardt 17Johannes Kunisch (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Helmut Neuhaus), Der dynasti- sche Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982; Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, Berlin 1979. 18Arno Strohmeyer, Theorie der Interaktion: das europäische Gleichgewicht der Kräfte in der frühen Neuzeit, Wien 1994. 19Paul Sonnino, Louis XIV and the origins of the Dutch War, Cambridge [usw.] 1988. 20Grundsätzlich zu diesem Problem, das im aktuellen Forschungsdiskurs eine promi- nente Rolle spielt, Andreas Gestrich, Öffentlichkeit und Absolutismus, Göttingen 1994.
	        

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