Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1876)

Proz dtS Grund- und Stadtbesitzes zu Gunsten des Staats- 
fchatzeS tingehoben werden solle. Aehnliche Petitionen werden 
auch von den Gouvernements deS Südens vorbereitet, und eS 
steht zu erwarten daß alle Gouvernements Rußlands dieselbe 
Bereitwilligkeit kundgeben werden 
Neueste Nachrichten. 
Brüssel, 2t. Der „Moniteur Belge" meldet: Nach einer 
Mittheilung deS belgischen ConsulS auf Malm zeigte das dor 
tige Gouvernement der Handelskammer an daß in die Hafen- 
eingänge von Odessa. Kertsch, Sebastopol und Otfchakow Tor- 
pedoS gelegt wurden. 
Berlin, 21. Nov. Fürst Bismark ist heute Abends 6 Uhr 
mit Gemahlin und Tochter auS Varzin hier eingetroffen und 
hat sich sofort auf das Auswärtige Amt begeben. 
Berlin, 21. Nor. Die „Nordd. Allg. Ztg." schreibt: Die 
Meldungen von einer endgiltigen Ablehnung der Theilnahme 
Deutschlands an der Pariser Weltausstellung werden von be 
rufener Seite als zu weitgehend bezeichnet; bis vor wenigen 
Tagen habe nur Dreußen sich schlüssig gemacht, vom Reiche 
sei die AngÄegenWt noch nicht verhandelt worden. 
Wien, 21. Nov.' Ein St. Petersburger Brief der amt- 
lichen „W. Abendpost" plaidirt für ein unabhängiges König- 
reich Rumänien, vergrößert durch die Dobrudscha, und erklärt 
daß Rußland nur zur Förderung der Friedensverhandlungen 
feine Rüstungen fortsetze. (!) Die russische Armee an der Süd, 
grenze zählt v Corps, von welchen jedes auS 2 Infanterie- 
und einer Cavallerie-Division besteht, zusammen auf Kriegsfuß 
250.000 Mann, vie in 30 Tagen marschbereit find. Außerdem 
wird ein Reservekorps aus den Truppen in Südlithauen und 
Moskau gebildet. An der kleinastatischen Grenze stehen 4 Di 
visionen Infanterie, die kaukasische Dragoner-Division und meh- 
rere Regimenter Kosaken und grusinische Milizen. 
Wien, 21. Nov. Neuerlich sind von serbischer Seite mehr- 
fache Waffenstillstandsverletzungen vorgekommen, so daß man 
Zusammenstöße der beiden Lager befürchten muß. Die Abend- 
blätter äußern Besorgnisse, Rußland könnte der Konferenz mit 
dem Beginn deS Kriegs zuvorkommen. 
Wien, 21. Nov. Oesterreich - Ungarn erließ ein Pferde- 
Ausfuhrverbot, angeblich aus Rücksicht auf die Erhaltung der 
Wehrkraft der Monarchie und um der Gefahr einer Schädigung 
deS Zucht- und ArbeitSmateria.'S zu begegnen. — AuS Kon- 
ftantinopel wird gemeldet: Die KriegSverwaltung bestellte 15 
Millionen Patronen bei amerikanischen Häusern. AuS Calcutta 
wird der Abgang von 15.000 indischen Mohammedanern zur 
Theilnahme am Krieg angekündigt. 
Et. Petersburg, 21. Rov. Der „Regierungsanzeiger" 
Deröffentlicht eine Depesche des Fürsten Gortschakoff an den 
russischen Botschafter in London, Grafen Schuwaloff, datirt 
ZarSkoje Selo vom 7. Nov., worin die Genugthuung aus- 
gesprochen wird, daß Lord Derby in seiner Depesche vom 30. 
Oktober die Bemühung des kaiserlichen Kabinets im Einklang 
mit England zu wirken anerkennt. Ferner begründet der Reichs- 
kanzler auS dem Mißerfolg der Diplomatie die Notwendigkeit 
die Integrität der Türkei den Garantien unterzuordnen, die 
von der Humanität und dem europäischen Frieden gefordert 
Werden. Schließlich weist der Reichskanzler den Vorwurf zu- 
rück als hege Rußland Hintergedanken Konstantinopel gegen- 
über. Eine zweite Depesche an Schuwaloff vom 22 Oktober 
brückt Rußlands Bedauern aus daß England diesen grundlosen 
Befürchtungen Raum gegeben habe. 
Verschiedenes. 
* In der letzten Woche gab eS in London 79,073 Hülf» 
lose, von denen 36,476 in Arbeitshäusern waren und 42,597 
Unterstützung außerhalb deS HauseS empfingen. 
* Der letzte der Grenadiere, welche in Stärke von 800 
Mann Napoleon nach der Insel Elba als Leibwache begleitet 
haben, Louiö Burtin, ist vorgestern in dem hohen Alter von 
90 Jahren in dem ZustuchtShause Larochefoucauld zu PariS 
gestorben. Burtin war Ritter der Ehrenlegion. Dasselbe 
jätyl beherbergt noch einen dreiundachtzigjährigen sehr rüstigen 
Greis, NamenS GaSe, welcher die Schlacht von Waterloo 
mitgemacht hat. 
* Ein Kampf in der Luft. Eines Vormittags sah man 
an einem neuen Hause in der Nähe deS KreuzbergeS in Ber 
lin ein Hängegerüst, hoch oben im dritten Stock, und darauf 
einen Maurer, der beschäftigt war, die Front deS HauseS an 
zustreichen. Plötzlich erscheint in der Fensteröffnung, über ihm 
ein Herr, der ihm mit Heftigkeit befiehlt, augenblicklich daS 
Gerüst zu verlassen, da seine Streicherei Pfuscharbeit sei. Der- 
Künstlerftolz mußte in dem anstreichenden Architekten erwacht 
sein. „WaS verstehen Sie von der Malerei?" sprach er w- 
ächtlich; „bezahlen Sie mir den Anstrich deS ganzen HauseS, 
dann werde ich gehen!" — „Für solches Gekleckse soll ich auch 
noch bezahlen?" schrie der Bauherr, denn er war eS^ „wenn 
Sie das Gerüst nicht augenblicklich verlassen, werfe ich Sie 
hinunter auf die Sraße!" — „Dazu gehören doch.zwei," schrie 
nun seinerseits wieder der Maurer; „wenn Sie Courage ha- 
den, so kommen Sie doch her!" Kaum hatte er daS Wort ge- 
sprochen, da ist mit einem Satze der Bauherr durch die Fen 
steröffnung hinaus und auf das Gerüst gesprungen, daß eS 
unter ihm knirschte und knackte. Ein lamer Angstschrei ertönte 
von dem unten versammelten Publikum; Alle glaubten, daS 
dünne Brettergerüst werde zusammenbrechen. Der Anstreicher 
tauchte indeß seinen großen Pinsel tief in den Farbentopf und 
ehe sein Gegner noch einen festen Stand fassen konnte, da daS 
Gerüst von der heftigen Bewegung hin und her schaukelte, 
hatte er bereits eine Ladung gelber Farbe über Hut, Gesicht 
und den feinen blauen Rock, so daß er aussah, wie ein ge- 
spritzter Flur. Darob ein schallendes Gelächter von unten und 
Rufe: „Dacapo!" Zu einer Wiederholung ließ eS aber der 
Gesprenkelte nicht mehr kommen; mit derselben Turngewandt- 
heit wie vorhin voltigirte er wieder durch'S Fenster in'S HauS 
zurück und nachdem er noch die Faust geballt unv drohend ge- 
rufen hatte: „Das werde ich Ihnen anstreichen!" verschwand 
er Höhnend rief ihm der Maurer nach: „Ich habe Ihnen 
aber gelb auf blau bewiesen, daß ich daS Anstreichen besser 
verstehe als Sie!" Dann zündete er ruhig seine Pfeife an und 
„malte" weiter. 
. * Luzern. Der Doppelselbstmord, von welchem wir jüngst 
berichteten, wild durch einen seither vom Bruder deS Julius 
Egger im „Luzerner Tagblatt" veröffentlichten Brief in ein 
etwas anderes Licht gestellt. Der ganze Fall ist nach dieser 
neuen Darstellung psychologisch so rätselhaft und merkwürdig, 
daß wir nachstehend den besagten Brief auch noch folgen las- 
sen. Er sagt: 
Die Zeitungen haben über die so äußerst betrübenden To- 
desfälle des Julius Egger und der Frau Marzelline Fenner, v 
geb. Hermann Berichte gebracht, welche theilweife unrichtig und 
unvollständig sind. Gestatten Sie dem Bruder deS Verun 
glückten eine objektive Darstellung der Geschichte. 
Unser Bruder Julius Egger war 20% Jahre alt, natura- 
lisirter Schweizerbürger des KantonS Zürich. Mit dem sechs- 
zehnten Jahre wanderte er nach Amerika aus, woselbst ihn daS 
Schicksal durch ein vielbewegtes und an Erfahrungen reiches 
Leben verfolgte. In die Schweiz zurückgekehrt, oblag er seinem 
kaufmännischen Stand in Bankgeschäften. Julius war von Na- 
tur ein glücklich angelegter Mensch, aber seit feiner Rückkehr 
aus Amerika zeigte sich eine auffallende Ueberreizung des Ge- 
müthes. 
Marzelline Hermann, das zweite Opfer, war 19 *4 Jahre 
alt. Sie war in Kostarika geboren und kam dann vor einigen
	        

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