Liechtensteinische
Vierter Jahrgang.
Vaduz, Freitag
Nr. 40.
den 6. Oktober 1876«
Der. jetzige Krieg im Orient.
Um ein richtiges unparteiisches Bild über diesen unheil-
vollen Krieg zu empfangen, ist eS nothwendig vrrschiedene An-
sichten zu hören. Wir haben letzthin einen Bericht deS engl.
Botschaftssekretärs Baring über die türkischen Gräuelthaten in
Bulgarien gebracht; heute find wir in der Lage den Brief
eines englischen Stabsoffiziers A. D., deu wir d, Ä. A. Ztg.
entnehmen, zu veröffentlichen. Derselbe beleuchtet das Treiben
der Serben und Russen in ziemlich unverblümter Weise. So
heißt eS in demselben.
Die längere Ruhe auf ven verschiedenen Theilen Serbiens
die jetzt von türkischen Truppen besetzt worden, mag vielfach
in Europa auffallen, allein sie entsteht fast allein dadurch daß
der notwendige Transport von Proviant und Munition, welche
die Truppen unumgänglich brauchen, selbst bei der größten
Anstrengung nicht schneller herbeigeschafft werden kann. Hätte
die Armee deö SeraSkiers Abdul Kerim nur Pulver und Mehl
in genügender Menge stets bei sich, so würde sie längst in
Belgrad sein; abir die leidige Verzögerung, die dadurch ent-
steht daß beide nun einmal unumgänglich notwendige KriegS-
bedürfniffe mit unsäglichen Schwierigkeiten auf schlechten We-
gen herbeigeschafft werden müssen, macht ein schnelleres Vor-
rücken absolut unmöglich. Selbst ein Napoleon I. oder Moltke
würden hieran scheitern, denn wenn die türkischen Soldaten
auch zu hungern wie die Katzen und zu marschiren wie die
Pferde vor den Londoner CabS im Stande find, einiger Nah-
rung bedürfen ste doch immer, und Patronen gebrauchen sie
auch, da zu einem Kampfe mit Kolben und Bajonnette die
serbischen Milizen eS nun einmal nicht kommen lassen, sondern
fast stets früher recht eilig das Hafenpanier ergreifen, sowie
litt türkischen Bataillone ihnen nur gehörig auf den Leib
rücken.
Ist eS doch überhaupt ein ganz gewaltiger Unterschied
zwischen dem Enthusiasmus wie er auf dem Papiere steht, und
dem wie solcher in der wahren Wirklichkeit beschaffen ist, und
von letzterem habe ich bei den serbischen Milizen — manche
rühmliche Ausnahme abgerechnet — erst verteufelt wenig ver-
spürt. Hat Fürst Milan dieser Held sonder gleichen, der weit
vom Schuß in sicherer Ruhe Proklamationen über Proklama-
tionen erläßt, von denen die eine noch immer die andere in
schwülstigen Phrasen und unwahren Behauptungen zu über-
bieten strebt, jetzt sogar einen eigenen Befehl erlassen müssen,
wonach die Selbstverstümmelung der Rekruten, um auf solche
Weise dem Verhaßten Eintritt in die Milizen zu entgehen, mit
harten Strafen belegt werden soll. Ueber 300 Ausgehoben?
sollen, nach englischen Berichten aus Belgrad, dort sich an den
Händen verstümmelt haben, um so von dem Heeresdienste loS-
zukommen, und aus manchen Milizbatailkonen desertiren die
Soldaten in ganzen Schaaren, und flüchten sich nach Rumä^
nien oder über die österreichische Grenze. Viele Bataillone der
serbischen Miliz sind absolut nicht mehr in daS Feuer zubrin-
gen, und ich habe eS vor Alexinatz selbst gesehen, daß sie anö-
rissen, sowie nur die ersten türkischen Kugeln in ihre Reihen
schlugen, und trotzdem daß die russischen Offiziere rechts und
links mit ihren Säbeln auf die Köpfe der Fliehenden schlugen
nicht eher stillstanden, als bis sie sich hinter ihren Schanzen
und Wällen in Sicherheit wußten. Und dann hat man noch
die Frechheit zu behaupten: die Serben führten jetzt einen hei^
ligen Krieg gegen die Türken, und das ganze Volk sei von
dem festen Entschlüsse beseelt zu sterben oder zu siegen, utft
wie ähnlicher Schwulst noch immer heißen mag. Humbug,
nichts als eitler Humbug ist daS Ganze. Man bereut in Ser-
bien ungemein den wahrhaft frevelhaften Leichtsinn um nichts
und wieder nichts den Krieg an die Türkei erklärt zu haben,
möchte gern Frieden um jeden Preis, würde selbst den Fürsten
Milan bereitwillig dafür opfern, und steht jetzt schon ein, wie
verblendet man gewesen ist sich von diesen ehrgeizigen russischen
Intriganten aufhetzen zu lassen, und Hab unk» Gut und daS
Leben von Tausenden junger kräftiger Männer hinzuopfern'
bloß damit die Planslavisten in Moskau ihre selbstsüchtigen
Zwecke erreichen. Doch jetzt ist eS zu spät, der Fürst Milan
wird kaum noch dem Schein nach gefragt, denn der Generai
Tschernajeff ist der ziemlich unumschränkte Diktator deS gan
zen Fürstentums, der ganz nach Lust und Belieben hier schal-
tet und waltet, und seine russischen Offiziere betrachten die
Serben als ihre bloßen Diener und die serbischen Milizen als
ihre Rekruten, denen sie mit tüchtigen Hieben die strenge hei-
mathliche Disziplin beibringen müssen. Russische Offiziere aller
Grade sollen bereits an 7—800 im serbischen Heere dienen,
und jetzt kommen täglich auch noch Hunderte von russischen
Unteroffizieren und Soldaten in Belgrad an, um von dort
aus an die verschiedenen Bataillone und Batterien vertheitt
zu werden. Einen größern Hohn gegen die Neutralität, wie
sich Rußland ihn jetzt ohne Scham und Scheu gegen die Tür-
kei erlaubt, ist glaube ich, noch niemals da gewesen, seit man
überhaupt ein Völkerrecht mit seinen bestimmten, von allen
zivilisirten Staaten anerkannten Gesetzen, kennt.
Ich gehöre sicherlich nicht 'zu den unbedingten Verehrern
der Türkei, bin mir bewußt die vielen und dabei außerordent«
lich großen Gebrechen der türkischen Regierung genau zu er-
kennen, und hätte dringend gewünscht, daß schon im Frühjahr,
bevor dieser ganze scheußliche Krieg durch die Intriguen der
russischen Panslavisten entzündet wurde, ein Kongreß aller euro-