Volltext: Liechtensteinische Wochenzeitung (1874)

Hie Aktionäre der in Liquidation befindlichen Aktiengesellschaften 
brauchen gar nicht erst den Abgang deS Aktienkapitals zu ent- 
decken, da der Verwaltungsrath in öffentlicher Generalver 
sammlung in Gegenwart deS landesfürstlichen Kommissars 
diesen Abgang unumwunden eingestanden hat, ohne denselben 
anders als durch nichtssagende Phrasen rechtfertigen oder auch 
nur erklären zu können. Oder ist auch daS kein hinreichender 
VerdachtSgrund für den Staatsanwalt und Strafrichter, wenn 
die Liquidatoren die ausgegebenen Kassenscheine unter der Hand 
mit 25 Prozent zurückkaufen und dabei den Einleger, der freilich 
jetzt noch froh ist, nur ein Biertheil seiner Einlage zu retten, 
um 75 Prozent anlaufen lassen? Es hilft nichts, die geduldige 
ThemiS muß endlich daS Racheschwert ziehen und eS auf das 
Haupt der Schuldigen fallen lassen. Wir sehen in dem Re- 
gierungSerlasse den erfreulichen Beweis, daß man sich endlich 
zu dem ersten Schritt entschlossen hat, aber diesem ersten Schritte 
muß alsbald der zweite, ernstere folgen, wenn nicht AlleS wieder 
beim Alten bleiben soll." 
Frankreich. Ueber die skandalösen Attentate, welche in 
der jüngsten Zeit auf dem Pariser Westbahnhof an den repu 
blikanischen Abgeordneten Gambetta, de Mahy und Lefebre 
ausgeübt worden stnd, sagen die näheren Berichte folgendes: 
Ter Versailler Zug fuhr am 11. Juni Abends 6% Uhr 
in den genannten Pariser Bahnhof ein; der Wartesaal und 
die Halle desselben waren bereits von Neugierigen gefüllt. Die 
Polizeimannschaften machten Spalier, konnten aber die Menge 
nicht in Schranken halten. Unter den zurückkehrenden Abgeord- 
neten befand sich Herr Gambetta in Begleitung der HH. Or 
dinaire, Lockroy, Challemel-Lacour u. a. Mitten im Wartesaal 
trat ein Individuum auf Herrn Gambetta zu, und schlug ihm 
mit der Faust ins Gesicht, gleichzeitig mit einem Stock um sich 
fuchtelnd, so daß auch Herr Ordinaire an der Hand verletzt 
wurde. DaS Publikum hatte kaum Zeit feine Entrüstung zu 
erkennen zu geben; Herr Gambetta rief Polizeiagenten herbei, 
und ließ das Individuum, welches ihn geschlagen hatte ver- 
haften. Er selbst gewann auch nur mit polizeilicher Hilfe 
daS Freie und begab sich in Begleitung des Herrn Ordinaire 
direkt zu dem nächsten Polizeikommissär. Hier diktirte er feine 
Aussage über daS Geschehene zu Protokoll. Der Polizeikom- 
miffär ließ sogleich den Verhafteten herbeiführen und schritt zum 
Verhör. Der Jnsultant, der im Gedränge seinen Hut ver- 
loren hatte, gab sich zu erkennen als der 34jahrige Graf 
Heinrich v. Sainte-Croix, Sohn des Marquis Raynouard v. 
Sainte-Croix, Zahlmeisters des Finanzministeriums in Laval 
und der Frau v. Sainte-Croix, gebornen Savary, Herzogin 
v. Rovigo. Er war unter dem Kaiserreich Unteroffizier bei den 
Gardezuaven, in der Loire-Armee BataillonSchef in der Mobil' 
garde der Mayenne, und- ist jetzt „ohne Provision." Er gab 
nicht nur zu Herrn Gambetta geschlagen zu haben, sondern 
erklärte auch, daß er in dieser Absicht auf den Westbahnhof 
gegangen sei, da der Mann, welcher angesichts des FeindeS 
eine Revolution gemacht habe, eine solche Züchtigung verdiene, 
daß er daher auch bei nächster Gelegenheit diesen Akt wiederholen 
wolle, um Herrn Gambetta zu zwingen seine Schmähung gegen 
die bonapartistifche Partei zurückzunehmen oder sich zu schlagen; 
den Abgeordneten Ordinaire kenne er nicht und habe ihn daher 
unabsichtlich verletzt. Der Polizeikommissär nahm auch hierüber 
«in Protokoll auf, und brachte dann in eigener Person Herrn 
v. Sainte-Croix in Voruntersuchungshaft. Herr Gambetta 
kehrte in Begleitung des Herrn Ordinaire zu Wagen nach 
seiner Wohnung zurück. Die Kunde von dem Vorgefallenen 
verbreitete sich bald in ganz Paris, und brachte am Boulevard 
eine nicht geringe Aufregung hervor. Heute wurde der West- 
bahnhof schon Vormittags um 11 Uhr von einer Abtheilung 
berittener und von einer Kompagnie Fußgendarmen besetzt. In 
den zum Bahnhof führenden Straßen war alle 15 Schritt 
ein berittener Gendarme postirt. Hinter dem Bahnhof hatte 
eine Schwadron Kürassiere Stellung genommen und die Trup- 
pen der nahen Pöpinisre-Kaserne waren konstgmrt. Im In- 
nern des Bahnhofes wimmelte eS von Polizeiagenten, und die 
Zirkulation war nur den mit einem Fabrbillet versehenen Per- 
fönen gestattet. Gleichwohl herrschte in den Umgebungen ein 
starker Andrang von Neugierigen, unter denen man namentlich 
viele Studenten bemerkte. Um 1 Uhr 20 Minuten schritt 
Herr Gambetta am Arme seines Kollegen Edmond Adam und 
von einigen andern Abgeordneten der Linken begleitet durch die 
Rue de Rome dem Bahnhofe zu. Die Menge begrüßte ihn. 
mit den Rufen: „ES lebe Gambetta! Es lebe die Republik!" 
Aber ein Individuum ließ auch den Ruf vernehmen: „Nieder 
mit Gambetta! Nieder mit dem Diktator." Sogleich drangen 
die Polizeiagenten mit Fauststößen in die Menge ein, und be- 
wirkten mehrere Verhaftungen; bald kam ihnen auch eine Ab- 
theilung des 85. Linienregiments zu Hülfe, und endlich sprengten 
auf ein Hornsignal auch die Kürassiere herbei, und fegten die 
Rue de Rom und die Rue de Lazare aus. Die Volkshaufen 
räumten ohne Widerstand und Geräusch den Platz, und um 2 
Uhr hatte der Bahnhof wieder sein gewöhnliches Aussehen. 
Unter den Verhafteten befindet sich ein Bruder deS Abgeord 
neten Edmond Adam. Allgemein wird darüber geklagt, daß 
die Polizei mit besonderem Eifer auf die Personen Jagd machte, 
welche Hochrufe auf die Republik und Gambetta ausbrachten. 
Das Individuum, welches „Nieder mit Gambetta!" rief, war 
ein Herr Bousquet, ehemaliger Kapitän der Mobilgarde und 
Ritter der Ehrenlegion. Er und vier andere ehemalige Offi- 
ziere der Mobilgarde wurden verhaftet, jedoch nach einem sum- 
manschen Verhör vor dem Polizeilieutenant wieder auf freien 
Fuß gesetzt 
Die Abgeordneten de Mahy und Lefebre geben in den 
republikanischen Blättern eine Darstellung über ihre Verhaf- 
tung beim zweiten Skandal auf dem Pariser Bahnhof am 
11. Nachmittags kurz vor Abfahrt deS ZugeS nach Versailles. 
Herr de Mahy schreibt, daß er, als er in der größten Eile am 
Wartesaal deS Bahnhofes ankam, eine dichte Menschenmenge 
traf, welche eben auf Gambetta Hochrufe ausbrachte; da habe 
er dem letzteren, von dem er nur wenige Schritte entfernt zu 
stehen gekommen sei, die Hand hingestreckt. „Da rief ein 
ältlicher gut gekleideter dekorirter Herr auS der Menge heraus: 
„Diese HundSf . ... von Abgeordneten sind eS die hieher 
kommen um Unruhen zu stiften!" Ich entgegnete: „Halten 
Sie zuerst den Mund!" Sogleich packte mich ein Schutzmann 
in Uniform am Arm und Kragen, um mich wegzuschleppen. 
Ich verbot ihm mich zu berühren, indem ich mich als Depu« 
tirten zu erkennen gab. Ein anderer Agent in Uniform leistete 
ihm Beistand. Ich habe keinen Versuch gemacht zu entwischen 
(.was ein bonapartistischeS Blatt behauptet hatte), und brauchte 
eS auch nicht zu thun, sondern ich habe nur ernstlichen Wider- 
stand geleistet und laut meine Entrüstung über ein solches Ver- 
fahren der Polizisten ausgesprochen, welche Abgeordnete ver- 
haften, und Leute die eS wagten diese Abgeordneten zu be- 
schimpfen, freiließen. Beinahe sogleich kam ein Sicherheit- 
Offizier in Zivil herbei und befahl den Agenten, denen er sagte 
wer ich war, mich loszulassen. Ich wünschte ihm zu dieser 
Erfüllung seiner Pflicht Glück und konnte mit Zug 1 Uhr 25 
Minuten abfahren. DaS sind genau meine Erlebnisse." Aehn- 
lich lautet die Darstellung deS Herrn Leföbre über feine Be- 
Handlung. . 
Als Anhang zu diesen Vorfällen kennzeichnet ein Pariser 
Korrespondent der A. A. Ztg. die gegenwärtige Lage in Paris 
auf folgende Weise: Das spanische Städtchen Badeloma zählt 
10,000 Einwohner. Unlängst wurde es von zwei Duzenden 
karlistifcher Banditen überrumpelt. Sie beraubten die Kassen 
und entführten den Bürgermeister und den reichsten Mann der 
Stadt als Geisel ins Gebirg, ohne daß die verblüffte Bevöl- 
kerung sich zum Widerstand aufraffte. Aehnlich Hausen zur
	        

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