haup tung einer «europäischen Identität» erstaunlich wenig nötig gehabt und auch anspruchsvolle Versuche, Europa einen «Kern» einzupflanzen, getrost hinter sich gelassen. Würde etwa – nach Jürgen Habermas – die kon se quente Trennung von Kirche und Staat zum europäischen Obli ga - torium gehören, so wäre Polen kein europäisches Land: hier hat gerade die demokratische Freiheit unter den Bedingungen der Fremdherrschaft ihre Stütze in einer unbeugsamen Kirche gefunden. Und wo bleibt, in ganz Europa, der «kerneuropäische» Grundsatz, dass (in der Formulie - rung des deutschen Grundgesetzes) «Eigentum verpflichtet»? Der glo - ba lisierte Wettbewerb trennt überall, auch in Europa, das Netzwerk der «sozialen Marktwirtschaft» auf, unter tätiger Nachhilfe Brüssels, das sei- ne übernationale Rolle als Deregulator und Konkurrenz-Beschleu ni ger versteht – wenn es sich nicht gerade im Überregulieren gefällt. In Europas Logik herrscht die Unschärfe. Daran stirbt es nicht, und wird nicht einmal ärmer davon: sogar die Nachrede, «blutleer» zu sein, kann sich eine Staatenorganisation leisten, die ihre Teilnehmer mit Erfolg vor dem Blutvergiessen bewahrt. Aber warum soll ein Bündnis blutleer sein, das sich solche inneren Differenzen leistet – und leisten kann, ohne daran zu zerbrechen? Im vergangenen Jahr fand sich an einem Schriftsteller-Treffen im Ham burger Literaturhaus kaum ein Teilnehmer, der die Organisation Europas nicht mit tiefstem, schon fast bekenntnishaftem Misstrauen be - trachtet hätte. Aber dass Europäer immer am besten wissen, was sie
nicht wollen, gehört zu den Hauptstücken europäischen Denkens. Es fängt mit Sokrates an, dem sein «Daimonion» nur einflüsterte, was er
nichttun sollte, und endet nicht mit Adornos «negativer Dialektik». Dazwischen liegen die Gipfel europäischer Aufklärung, von Erasmus über Voltaire und Lessing bis zu Karl Marx: als Kritiker von erstem Rang, waren sie als Utopisten zuverlässig falsche Besetzungen. Auch für die Kunst – die euro päische jedenfalls – gilt gleichermassen, dass das so genannte Posi - tive ohne Zweideutigkeit und Ironie nie zu haben ist. Musils «Mann ohne Eigenschaften» führt exemplarisch vor, dass sich ein Völkerbünd - nis – damals die Donaumonarchie – ohne Peinlichkeit nicht feiern lässt. Ich bekenne mich zur politischen Föderation Europas, sie bleibt in meiner Lebenszeit das wichtigste und hoffnungsvollste Projekt der Geschichte. Und wenn das schreckliche 20. Jahrhundert nicht ausreicht, dass wir uns damit auch ohne europäische Identität als Europäer identi - fi zieren: was dann? Das Zusammenwachsen und Zusammenraufen darf 21
Gibt es und brauchen wir eine europäische Identität?