Paul Klee (1879 Münchenbuchsee/Bern-1940 Muralto-Locarno)
9 Märchen, 1929,132 (D 2); sign. u. M.: Klee; Aquarell auf Leinwand; 50,3x 43,1 cm; Inv. Nr.: P76M; erworben: 2000
Provenienz
Anhaltische Gemäldegalerie, Dessau, 1929-1937;
Zurt Valentin (Buchholz Gallery; Valentin Gallery),
Zerlin/New York, bis 1939;
SGalka E. Scheyer, Braunschweig/New York/
San Francisco/Hollywood, ab 1939;
Douglas Cooper, London/Argilliers/Monte Carlo,
Dis 1955;
Berggruen & Cie, Paris, ab 1955;
Nilliam A. M. Burdon. New York
Bei der Betrachtung des Bildes fallen vor
allem zwei Aspekte sofort ins Auge: Erstens
st es in besonders zarten Farbtönen gemalt,
zweitens scheint eine Art Schwerelosigkeit
zu herrschen, die es möglich macht, dass
ain stehender Mensch auf halber Höhe am
Bildrand steht, gegenüber dem sich deutlich
vom unteren Bildrand her erhebenden Berg.
Die zarten Farbtöne rühren daher, dass Klee
hier auf die Technik des Aquarelis zurück-
gegriffen hat, die sich durch eine hohe
Lichthaftigkeit und Durchlässigkeit für an-
dere Farben auszeichnet. Diese eigentlich
nicht für Malerei auf Leinwand entwickelte
Technik hat Klee offenbar gezielt gewählt,
um die ungewöhnliche Zartheit in der
Farbgebung zu erreichen.
Den Berg hat Klee aus unregelmäßigen
Vierecken zusammengesetzt, die von einem
dlauen Dreieck bekrönt werden. Am Fuße
des Berges, gewissermaßen von ihm umfan-
gen, ist ein Gebäude in einfachen kubischen
Formen zu erkennen, das durch farbige
Quadrate und Streifenmuster geschmückt
ıst. Am linken Bildrand wächst aus dem
Eckpunkt einer kubischen Erhebuna eine
einfache, schachtelhalmartige Pflanze
empor, über der ein Paradiesvogel nach
°echts in das Bild hinein fliegt. Darüber die
schon erwähnte menschliche Gestalt in Rock
ınd Umhang: eine Frau. Über der Szenerie
schwebt eine tiefrote Sonne.
Wenngleich das Bild auf den ersten Blick
von der Farbgebung zu leben scheint, so
;pielen die eingesetzten Linien ebenfalls eine
Jgrundlegend sinnstiftende Rolle für das Ver-
;tändnis. Der Titel des Bildes verweist darauf,
dass Klee hier eine Geschichte erzählt. Dabei
verbindet der Betrachter die Assoziationen,
die sich mit dem Begriff «Märchen» verbin-
den, sogleich mit den zarten Farbwerten
;owie mit einer erzählten Geschichte. Solche
«traumartigen» Bilder haben Klee den Ruf
ajnes visuellen Poeten verschafft, was zwei:
’ellos zutrifft, jedoch bisweilen auch dafür
nerhalten muss, die konzeptuellen Aspekte
;einer Bilder nicht genauer betrachten zu
müssen. Dabei hat Klee seine Gestaltungs-
orinzipien in zwei grundlegenden Werken
veschrieben, von denen eines bereits 1925
publiziert wurde (vgl. Kat. Nr. 18). Darin
betont er einen wesentlichen Aspekt seines
Nerkes: die Bewegung. Unter diesem Aspekt
betrachtet, erschließt sich das Gemälde
Märchen als eine Interpretation seines Titels
Der Berg ist aus von Klee so genannten
medialen Linien zusammengesetzt, d.h. die
Linie umschreibt in ihrer Bewegung zwi-
schen verschiedenen Punkten eine Fläche,
die in sich passiv ist. Der Berg also ist eine
passive, eine ruhende Bewegung. Auch das
SZebäude zu seinen Füßen besteht aus
'uhenden Flächen. Der linke Bildrand dage-
gen ist von aktiven Linien markiert, einerseits
von der nach oben wachsenden Pflanze mit
hren zahlreichen Ästen, andererseits von
der aktiven Flugbewegung des Vogels, der
sich auf den ruhenden Berg zu bewegt.
Jie Sonne dagegen wirkt als «aktive» Fläche,
deren hohes Energiepotential durch das
:jefe Rot verdeutlicht wird. Einzia die Frau
‚st energetisch nicht eindeutig zuzuordnen.
Sie schwebt am Bildrand und scheint keinen
Boden unter den Füßen zu haben.
Wir haben es hier also mit jener Konstel-
'ation zu tun, die auch vielen Märchen eigen
ist. Deren erzählerische Dimension, also die
Geschichte in ihrem konkreten Geschehen,
‚st jenseits ihrer psychologischen Dimension
als Deutung für menschliches Verhalten
stets auch grundlegender Ausdruck für die
Deutung dafür, wie die Welt als großes
System funktioniert. In diesem Sinne handeli
es sich hier um ein «Urbild» für Märchen:
Der Mensch betrachtet dabei mit und durch
sie die Bewegung der Welt zwischen der
organischen und der anorganischen Natur,
zwischen Stein, Pflanze, Tier und der alles
umfangenden Lebensenergie, die durch das
Sonnenlicht auf die Erde kommt. Das ist ein
Wunder, das der Mensch bestaunt, ebenso
wie seine eigenen Werke, die Teil dieser
kosmischen Ordnung sind.
£.M.