Wassily Kandinsky (1866 Moskau-1944 Neuilly-sur-Seine)
Paysage & Murnau (Landschaft mit dunklem Baum), 1908; verso bez. (sign.?): Kandinsky 1908; Karton; 32,8x41 cm; Inv. Nr.: P4T; erworben: 1998
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Provenienz
Gabriele Münter, Murnau;
Marlborough Fine Art Ltd., London;
Stephan Hahn, New York;
Findlay Galleries, Chicago;
Cynthia Warrick Kemper, New York;
Jan Krugier, Genf;
Privatsammlung, Schweiz
Ende 1896 kam Wassily Kandinsky von
Moskau nach München und besuchte dort
kurze Zeit später die Kunstschule des aus
Laibach (Ljubljana) stammenden Malers
Anton AZbe. 1902 gründete Kandinsky
selbst die «Phalanx-Kunstschule», in welcher
er Gabriele Münter als eine seiner ersten
Schülerinnen unterrichtete. Zwischen ihnen
entwickelte sich eine immer enger werdende
Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die bis
zum Ersten Weltkrieg bestand. 1908 mach-
ten beide einen Ausflug in das bayrische
Voralpenland und entdeckten dabei das
kleine Dorf Murnau am Staffelsee. Es gefiel
ihnen dort so gut, dass sie im darauf folgen-
den Jahr ein Haus erwarben, in dem bald
schon Alexej von Jawlensky und Marianne
von Werefkin als Gäste ein- und ausgingen
(siehe Kat. Nr. 10). Von Beginn an erkun-
deten sie die umliegende Landschaft und
hielten sie in zahlreichen, meist kleinfor-
matigen Gemälden fest.
In Kandinskys Paysage dä Murnau von
1908 dominieren noch die Stilmerkmale des
Neoimpressionismus, bei dem alle Licht-
und Farbdaten in einzelne Striche und Punk
ce zerlegt und unvermischt nebeneinander
gestellt sind. Doch auch der ornamentale
Linienfluss des Jugendstils ist im Bildaufbat:
erkennbar und verbindet sich rhythmisch
mit dem Auf und Ab der Bodenwellen des
baumbestandenen Landschaftsausschnitts.
Ob das rechts im Hintergrund angedeutete
Dorf Murnau ist, lässt sich kaum mit Sicher:
heit beantworten. Auch andere kleine Ort-
schaften in Murnaus näherer Umgebung
haben Eingang in Kandinskys Gemälde
gefunden. Saftiges Grün und kühles Blau in
Begleitung abgestuften Violetts bestimmen
das Bildkolorit, in das sich nur geringfügige.
gleichwohl auffällige Tupfen von Weiß
und Rot einmischen. Ein Spätsommer-
nachmittag mag hier eingefangen worden
sein, an welchem die Schatten schon dunke
werden, aber, wie es die Impressionisten
so schön wussten, immer noch farbig sind
In diesem kleinteilig-flächenhaften Bild ist
die Farbe bereits weitgehend vom sichtbarer
Gegenstand gelöst. Kandinsky hat die Land
schaft nur mehr zum Anlass genommen,
durch Farbe allein, durch den Zauber ihres
Klanges, die Seele des Betrachters in Schwir
gung zu versetzen. Was er über Cezanne
schreibt, gilt im gleichen Maße für sein
eigenes Werk: «Nicht ein Mensch, nicht ein
Apfel, nicht ein Baum werden dargestellt,
sondern das alles wird [...] gebraucht zur
Bildung einer innerlich malerisch klingender
Sache, die Bild heißt.» Nur zwei Jahre nach
Entstehung der Paysage ä Murnau vollzog
Kandinsky den Schritt zur reinen Abstraktion,
zur völligen Befreiung der Farbe vom
Gegenstand.
U.W.