zu tun obliegt niemand sonst als dem Staatsgerichtshof als dem
„Hüter der Verfassung“ 1954, und nicht der Regierung, die — wie sie
im Jahre 1995 selbst zu Recht festgestellt hat — Kein „verbindlicher
Verfassungsinterpret (ist) 1955,
Das Schlusswort hat dabei einer Antwort auf die Frage zu gel-
ten, ob die liechtensteinische Verfassungsordnung die Môglichkeit
eines Vorrangs auch solcher vëlkerrechtlicher Verträge vor dem Landes-
recht kennt, die weder rechtlich noch tatsächlich auf Verfassungsstu-
fe stehen. Der Staatsgerichtshof hat diese Frage in der Vergangenheit
offen gelassen. Offen geblieben ist damit unter anderem auch, ob das
Rangverhältnis zwischen dem Vólkervertrags- und dem Landes-
recht1956 nur ein Kriterium unter anderen, oder ob es das entscheidende
Kriterium für eine Durchsetzung des Vorrangprinzips ist: Wird aner-
kannt, dass auch solche vólkerrechtlichen Vertráge dem Landesrecht
unter Finschluss der LV (d.h. dem geschriebenen oder ungeschriebe-
nen Verfassungsrecht) vorgehen kónnen, die keinen Verfassungsrang
besitzen, gilt das Vorrangprinzip absolut; wird seine Effektivitát als
eine Funktion der Rechtsquellenstufe (des Vólkervertrags- in seinem
Verhältnis zum Landesrecht) verstanden, gilt es nur relativ.
Auf diesem kritischen Pfad wird es dem Staatsgerichtshof nicht
erspart bleiben, sich zur Bedeutung des Rangverhältnisses als einem
Parameter des Vorrangprinzips auszusprechen. Die Ausgangsfrage
bleibt dabei die gleiche: Welche Rolle — wenn überhaupt — spielt die-
ser Gesichtspunkt (das Rangverhältnis und mit ihm die klassischen
Derogationsregeln) im Geltungsbereich des Vorrangprinzips!957? In
dieser Frage hat der Staatsgerichtshof nach wie vor zu keiner klaren
und eindeutigen Linie gefunden 958,
Nicht‘ (Kursivstellung durch den Verfasser). Im Jahre 1995 hatte die Regierung (BuA Nr.
1/1995) S. 181 noch erklàrt: , Vólkerrechtliche Vertráge kónnen ... sogar der Verfassung vor-
gehen".
1954 StGH 1982/65/V, LES 1/1984 S. 4.
1955 Regierung (Interpellationsbeantwortung Nr. 61/1995) S. 26.
1956 Siehe hierzu das 13. Kapitel.
1957 Umgekehrt stellt sich im gleichen Atemzug die Frage, ob die LV dem — und in diesem Falle —
welchem Vólkerrecht vorgeht. Diese Frage birgt vor allem dann Brisanz, wenn sich heraus-
stellen sollte, dass die Verfassung vom 16. Márz 2003 mit dem Vólkervertragsrecht, und zwar
vor allem mit dem Statut des Europarates und mit der EMRK (und ihren Zusatzprotokollen),
nicht zu vereinbaren sind; siehe hierzu die Venice Commission (Opinion) S. 12. Besteht eine
solche Unvereinbarkeit, eróffnet sich die Perspektive andauemder gerichtlicher ebenso wie
aussergerichtlicher Streitigkeiten nicht nur um die Autoritát, sondern auch um die Legalitát
aller drei Staatsfunktionen, d.h. der Legislative, der Judikative und der Exekutive.
1958 Siehe hierzu StGH 1999/28, LES 1/2003 S. 8. In diesem Erkenntnis ist der Staatsgerichtshof
unter den Bedingungen eines Konfliktes zwischen einem Staatsvertrag und einem formellen
Gesetz von einem Rückgriff auf die klassischen Derogationsregeln der /ex superior und der
lex posterior ausgegangen, und nicht vom Vorrangprinzip. Dieser, im Widerspruch zum Vor-
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