Auslegung des Verfassungs- und Verwaltungsrechts
Bei einer historischen Auslegung muss allerdings die konkrete Ausein-
andersetzung mit den Gesetzgebungsmaterialien hinzutreten. Dazu ge-
hören Berichte und Anträge der Regierung sowie die Beratungen im Land-
tag gemäss den Protokollen”. Zum Teil fehlen in den Urteilen diese An-
gaben®, warum der Gesetzgeber eine solche Regelung subjektiv gewollt
hat. Es handelt sich eher um Mutmassungen, als um eine effektiv histori-
sche Auslegung. Ferner setzt der Rückgriff auf die Materialien voraus, dass
“der Entstehungsgeschichte einer Neuregelung zu entnehmen ist, warum
eine Bestimmung bisher in der Rechtsanwendung nicht zu befriedigen ver-
mochte und der Gesetzgeber sie daher geändert wissen wollte”?
Demgegenüber zieht die objektiv-historische Auslegung die Bedeu-
tung einer Norm heran, die durch die allgemeine gesellschaftliche An-
schauung zur Zeit ihrer Entstehung bestimmt war“, Damit wird nebst
dem subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers vor allem auf die
allgemeine Anschauung in der Entstehungszeit abgestellt. Es ist aller-
dings nicht einfach, diese “allgemeine Anschauung” festzustellen“.
Die zeitgemässe Auslegung stellt auf den Sinn der Norm ab, wie er sich
zur Zeit der Rechtsanwendung ergibt“. Es gibt im Verfassungsrecht zen-
trale Fragen, bei denen der Wille des historischen Verfassungsgebers be-
sonders respektiert werden will. Im Sinne der subjektiv-entstehungs-
zeitlichen Interpretation hatte es der Staatsgerichtshof abgelehnt, das
Frauenstimmrecht über eine Verfassungsneuinterpretation einzuführen“,
So räumte Art. 57 der Verfassung von 1862* und die Landeswahlordnung
von 1921 das Stimmrecht nur den Männern ein, ohne dass dies als der Ver-
fassung von 1921 widersprechend angesehen wurde. Der Staatsgerichts-
hof orientierte sich an den bislang vorwiegend negativen Entscheiden des
Stimmvolkes. Dieses verwarf die entsprechenden Verfassungsänderungen
1971 und 1973: 1976 stimmte es dem Frauenstimmrecht nur auf Gemein-
» Siehe als mustergültiges Beispiel VBI 1993/52, Entscheidung vom 23.2.1994, LES 1994,
S. 117 (118) oder StGH 1990/17, Urteil vom 29.10.1991, LES 1992, S. 12 (17).
3% So etwa in VBI 1985/30, Entscheidung vom 27.11.1985, LES 1986, S. 31.
» VBI 1995/13, Entscheidung vom 10.5.1995, LES 1995, S. 80 (81).
“ Vgl. Häfelin/Haller Nr. 92 ff.
4 So hat das Bundesgericht im Waadtländer Frauenstimmrechtsfall, BGE 83 I 180 f., diese
allgemeine Anschauung schlicht behauptet.
Vgl. Häfelin/Haller Nr. 9 ff.
Vgl. SCGH 1982/1-25, Urteil vom 1.7.1982, LES 1983, S. 69 (72 f.).
4 Text: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parla-
ments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein, LPS 8 (1981), 5. 273 ff.
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