Theorien zur Unterscheidung
Allerdings ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und
Privatrecht nicht nur wegen der Frage des Rechtswegs bedeutsam. In
materiellrechtlicher Hinsicht ist es entscheidend zu wissen, ob pri-
vatrechtliche oder öffentlichrechtliche Normen auf einen Sachverhalt
anzuwenden sind. In diesem Sinne legt $ 1 ABGB sinngemäss den An-
wendungsbereich des Gesetzes auf das “bürgerliche Recht” fest!! und
umgekehrt ist das Personen- und Gesellschaftsrecht gemäss dessen
Art. 1 Abs. 2 auf Fragen des öffentlichen Rechts nur insoweit anwend-
bar, als dies im Gesetz selbst vorgesehen ist.
Die Unterscheidung zwischen Verwaltungsrecht und Zivilrecht ist
ferner hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK
bedeutsam: Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nur dann anwendbar, wenn “Droits
de caractere civil” bzw. “Civil rights” betroffen sind. Diese Unterschei-
dung verweist indessen nicht auf das nationale Recht: Die Organe der
Europäischen Menschenrechtskonvention legen diese Begriffe vielmehr
autonom aus und geben ihnen eine Bedeutung, die nach eigenen Krite-
rien bestimmt wird!?, Die nationalen Unterscheidungskriterien spielen
damit für die Anwendung des Art. 6 EMRK keine Rolle!?.
II. Theorien zur Unterscheidung
1. Allgemeines
Die Lehre hat ZTheorien oder Kriterien entwickelt!*, welche eine Unter-
scheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht gestatten. Diese
Theorien geben damit dem dargestellten praktischen Bedürfnis nach, die
Frage zu beantworten. Wenn die Wiener Schule des Rechtspositivismus
feststellt, dass der Dualismus von Privatrecht und öffentlichem Recht
nicht rechtswesentlicher Natur sei”, so wird sie dem praktischen Be-
dürfnis nach dieser Unterscheidung nicht gerecht.
'' Vgl. Antoniolli/Koja, S. 109; Walter/Mayer Nr. 60.
'? Vgl. Andreas Kley, Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt,
Zürich 1993, S. 7 ff.; Kley, Rechtsschutz, S. 106 ff. m.H.
B In diesem Sinne ist Antoniolli/Koja, S. 109 missverständlich.
14 Vgl. SIGH 1984/8, Urteil vom 24.4.1985, LES 1985, S. 105 (106), wo der Staatsgerichts-
hof lediglich von den allgemein anerkannten Kriterien spricht.
5 Vgl. Merkl, S. 84.; vgl. die Darstellung bei Antoniolli/Koja, S. 107 f. und 111.
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