Auslegung, Rechtsanwendung und juristische Hermeneutik
dernen, philosophischen Hermeneutik, hat diesen sogenannten herme-
neutischen Zirkel wie folgt beschrieben:
“Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er
wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn
ım Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text
schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest.
[m Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von
dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn
ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht”.
Die am Beginn des Verstehensprozesses notwendig vorgegebene Sinn-
erwartung ist eine Bedingung des Verstehens. Der Ausleger tritt mit einem
Vorverständnis an den auszulegenden Text heran. Ohne Vorverständnis
würde sich keine Sinnerwartung und damit kein hermeneutisches Verste-
hen einstellen. Gadamer hat dieses Vorverständnis — zum Leidwesen der
juristischen Methodenlehre —- als ein Vor-Urteil bezeichnet!®.
4. Vorverständnis und Methodenwahl
Die von Gadamer wiederbelebte Hermeneutik wurde von Josef Esser!“
aufgenommen und ist heute in Deutschland und der Schweiz allgemein
anerkannt. In der österreichischen Lehre, welche sich mehr am Rechts-
positivismus orientiert, ist die schöpferische Komponente der Ausle-
gung und insbesondere die Hermeneutik noch nicht richtig anerkannt
worden. So ist etwa bei Antoniolli/Koja!* davon die Rede, “dass es sich
bei der Interpretation um einen Akt der Rechtserkenntnis handelt”.
Freilich kann der Ausleger nur das bereits Vorhandene “erkennen”;
diese Formulierung lässt das Schöpferische, das jeder Auslegung inne-
wohnt, ausser acht!*, Liechtenstein orientiert sich in der Auslegungs-
lehre stark an der Schweiz. Der Positivismus österreichischer Prägung
43 Vgl. Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band I, Tübingen 1990, 5. 274 f.
44 Vgl. Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen
1956.
45 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 100; ähnlich auch Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 126.
46 Vgl. dazu unten S. 111.
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