Auslegung, Rechtsanwendung und juristische Hermeneutik
Burckhardt gibt in seinem Zoll-Beispiel unbeabsichtigt Anlass zu Zwei-
feln an der Richtigkeit seiner These: Aus dem Rind wurde ein Ochse.
Muss auch für den Ochsen Zoll bezahlt werden, wenn der Tarif nur von
Rindern handelt? —- Bereits dreissig Jahre später sollten Werke, die sich mit
dieser “einfältigen Frage” befassen, ganze Bibliotheken füllen. Dabei hat
die juristische Hermeneutik einen besonders wichtigen Beitrag geleistet.
2. Verstehen durch Anwenden
Die Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen sprachlicher Äusse-
rungen; sie fand als Lehre des Verstehens ursprünglich auf den Bibeltext
Anwendung. Heute untersucht die juristische Hermeneutik das Verste-
hen und die Auslegung von Rechtstexten, namentlich von Gesetzen.
Gesetzestexte sind in ihrem Idealfall konzise und in eine systemati-
sche Ordnung untergliederte Vorschriften, die als Urteilsmassstäbe zu
befolgen sind; sie beanspruchen als Rechtsregeln Geltung. Der juristi-
schen Methodenlehre geht es um das Verstehen dieser sprachlichen Äus-
serungen; der Rechtsanwender soll den zutreffenden Sinn heraus-
schälen. In der mündlichen Alltagssprache erfolgt das Verstehen unre-
flektiert, weil dem Verstehenden nicht nur die Wahrnehmung der Laute,
sondern weitere Sinnquellen wie Gestik, Mimik des Sprechenden, die
Situation und der Zweck des Gesprächs, kurz ein situativer Kontext zur
Verfügung steht. Ähnlich ist es auch mit Gesetzestexten, die ausserhalb
eines konkreten Rechtsfalles, scheinbar klipp und klar normativ fordern:
“Wer ein Rind einführt, hat 20 Franken Zoll zu bezahlen”. In solchen
Fällen erscheint eine “Auslegung” überflüssig; der Hörende bzw.
Lesende wird des Sinnes unmittelbar inne.
Im konkreten Rechtsanwendungs-Fall lässt der Gesetzestext regel-
mässig ein je nach Standpunkt unterschiedliches Verstehen zu. Die des-
halb erforderliche Auslegung soll den problematisch erscheinenden
Normtext einer zutreffenden Bedeutung zuführen. Die Rechtsordnung,
die auf der Idee ihrer Einheit!®° aufbaut, kann es nicht zulassen, dass ein
Gesetzestext je nach Situation unterschiedlich gedeutet wird. Es wider-
spräche den zentralen rechtsstaatlichen Anliegen der Rechtsgleichheit
und Rechtssicherheit.
140 Vgl. SIGH 1979/3, Entscheidung vom 16.10.1979, LES 1981, S. 109 (110).
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