Liechtensteiner VOLKSBLATT
KULTUR
Samstag, 30. Dezember 2000 1 5
Das Fremde in uns
Kunst und Kultur - die Chance zur Überwindung von Fremdenhass
Mehrmals berichtete das
Volksblatt über Fremden
feindlichkeit in Liechten
stein. Da heisst es.z. B.:
«Rechtsextremismus ist
auch in Liechtenstein ein
aktuelles Thema. Die Re
gierung betont, dass sie
sich diesem Problem stelle
und die dazu erforderli
chen Massnahmen getrof
fen habe.»
Gerolf Hauser
Tatsächlich gibt es in Liechten
stein eine Fachgruppe; es gibt
ein Anti-Rassismus-Gesetz, es
gibt eine überregionale Zusam
menarbeit und Jugendforen,
zum Thema Ausländerpolitik.
Genügt das? Oder ist das das
Pferd von hinten aufgezäumt,
ist es Symptom- statt Ursa
chenbekämpfung?
Gewaltspirale
Die Leiter des Dresdner Pro
jekts «Für Demokratie Courage
zeigen» kennen die Argumente
der Jugendlichen, besuchen sie
doch Hunderte von Schulklas
sen. Sie fragen z. B.: «Wie hoch
ist der Ausländeranteil in Sach
sen?» Die Antworten ergeben
im Schnitt 20 Prozent. Der Pro
jektleiter lässt jeden Fünften in
der Klasse aufstehen: «Ihr müs
stet demnach alle Ausländer
sein.» Tatsächlich sind es in
Sachsen 2,3 Prozent. Oder: Alle
Ausländer klauen. Auf die Fra
ge an einen Schüler, wie viele
Ausländer er kenne, kommt die
Antwort: Keinen. Frage: Wie
viele Deutsche kennst du, die
klauen? Lachende Antwort:
Viele. Der Projektleiter: Wäre
es dann nicht eher angebracht,
zu sagen, die Deutschen klau
en? Intoleranz, Ausländer
feindlichkeit und Gewaltbereit
schaft (eine Untersuchung er
gab, dass in der Schweiz jeder
dritte Jugendliche täglich ver
spottet, beschimpft oder be
droht wird) - eine anscheinend
unaufhaltsam sich nach oben
drehende Spirale?
Ursachenforschung
Der Psychoanalytiker Arno
Gruen sprach in einem Vortrag
über «das Fremde»: Der Feind,
den wir im anderen suchen,
lebt in uns. Ihn wollen wir
bekämpfen, wenn wir den
Fremden draussen bekämpfen.
Damit schaffen wir Abgren
zung, und dies, obwohl Empa-
thie der Kern des Menschen ist.
Das beginnt in der Kindheit,
wenn die eigenen Bedürfnisse
unterdrückt werden müssen,
um den Bedürfnissen der ande
ren zu genügen - das ist keine
Sozialisation, sondern Fest
schreiben der Herrschaft, Un
terdrückung der Individualität.
Dieser - Herrschaftsanspruch
von aussen zieht sich weiter
durch Schule und Kirche. Da
materieller Erfolg die Maxime
unserer Gesellschaft ist, denn er
«beweist» die «Persönlichkeit,
die Individualität», ist alles,
was diesen Erfolg gefährden
könnte, existenzbedrohend.
Mehr noch, Lockerungen von
Strukturen, Begriffe wie Frei
heit etc, bergen die Gefahr in
sich, sich selbst, den eigenen
Empfindungen näher zu kom
men. Also suchen wir Auto
rität, da Liebe schwer zu ertra
gen ist. Das Perfide an der Un
terwerfung der Forderungen
der Mächtigen, der Eltern, Leh
rer, Pfarrer usw. ist, dass da
durch eine Art Geborgenheit
entsteht - und Wut gegen das
Eigene, das zum Fremden ge
macht wird, weil es jene Gebor
genheit in Frage stellt. Und die
se Wut wird nach aussen proji
ziert. Wir bestrafen die ande
ren, machen sie zu Opfern, fu
gen ihnen Schmerzen zu, weil
wir es nicht zulassen dürfen,
um dem Rahmen des gesell
schaftlich «Normalen» zu genü
gen, selbst die Schmerzen der
Entfremdung zu spüren, sich
selbst als Opfer zu empfinden.
Diese Zusammenhänge nicht
mehr zu erkennen, darauf sind
wir von klein auf konditioniert.
Erfolgreiches Modell
Im Berlin-Neuköllner Roll-
berg-Viertel ist Gewalt unter
Jugendlichen an der Tagesord
nung. Und mitten drin gibt es
die Regenbogen-Grundschule,
an der Kunst im Vordergrund
steht, Gewalt eine Ausnahme
ist. Kaum zu glauben bei 600
Rechtsextremismus ist auch in Liechtenstein ein aktuelles Thema. Die Regierung betont, dass sie sich
diesem Problem stelle und die dazu erforderlichen Massnahmen getroffen habe. (Archivbild)
Kindern aus 35 Nationen. Da
bei sind emotional, sozial und
intellektuell vernachlässigte
Kinder die Regel. Aber die Leh
rerinnen verfolgen ihr Ziel
konsequent, einen künstleri
schen Ansatz in allen Unter
richtsfächern zu pflegen. «Wir
Fachlehrer versuchen, uns the
matisch abzustimmen und zü :
vernetzen, so dass sich etwa
in Sachkunde, Biologie und
Deutsch ein Thema auch mit
Hilfe von Kunst erschliesst.^
Steht in Sachkunde Afrika auf
dem Programm, sind in Biolo
gie wilde Tiere ein Thema, und
in Kunst nehmen sie konkrete
Gestalt an. Das Rezept ist ein
fach: Die Schaffung einer At
mosphäre, die Kreativität und
Selbstbewusstsein fördert. Das
Selbermachen steht im Vorder
grund. Das steigert das Selbst
wertgefühl und mindert den
Bedarf an aggressiver Selbstbe
hauptung. Unterstützung für
diese Schule kommt auch von
Künstlern. Sie kommen und
bringen ihre Atelier-Arbeits
welt in die Klassen. Und es
werden zeitgenössische Aus
stellungen besucht. So werden
die Augen geöffnet für andere
Sichtweisen, wird Toleranz ein
geübt, statt fertige Lösungen zu
lehren. Dabei lernen, laut Aus
sagen der Lehrer, die Kinder
auch intellektuell eine Menge,
gerade was Abstraktionsver
mögen angehe.
Etwas leicht Verrücktes
1995 war in der «Prager Zei
tung» zu lesen: «Kultur versteht
man als Überbau, Geld dagegen
als essentiell. Kultur ist immer
etwas Zweitrangiges, leicht
Verrücktes, was sich nicht be
rechnen lässt. Etwas fehlt zu
nehmend ganz fatal: eine klare
Formulierung unserer staatli
chen Kulturphilosophie. Was
bedeutet für uns Sprache,
Kunst, Vergangenheit, Ge
schichte, was unsere kulturelle
Identität, wie ist unsere Stel
lung im europäischen Kultur
kontext, gegenüber unseren
Nachbarn - und wie soll sie in
Zukunft aussehen? Wie sehr
schätzen wir unsere Kreativität,
wie können wir uns gegen den
ungeschminkten Druck des
Kommerzes schützen und ihn
umgekehrt zugunsten der Kul
tur nutzen?» Urs Frauchiger,
ehemaliger Direktor der Kultur-
stiftung «Pro Helvetia» sagte:
«Wir müssten ein Drittel des für
Kultur zur Verfügung stehen
den Geldes als sogenanntes Ri-
sikokapitai, wie bei Investitio
nen in der Wirtschaft üblich,
einsetzen. Ich kann aus eigener
Erfahrung sagen, die Chance ist
50:50, dass wenn man junge,
abseitige, quere, spinnige Leute
unterstützt, man wirklich das
unterstützt, was die Kultur wei
terbringt und am Leben erhält.»
Sinnenschulung
Was kann getan werden.
Sind Projekte wie jene in Dres
den hilfreich? Genügt das Ver
abschieden neuer Gesetze, das
Aussprechen einer staatlichen
Kulturphilosophie, wie jetzt, als
erster Schritt, in der Broschüre
«Kulturgemeinschaft Liechten
stein» geschehen? Genügen
Worte, wenn z. B. Iso Camartin
in seinem Kulturkongress-Re-
ferat davon sprach, Kultur sei
so etwas wie ein demokrati
sches Recht, sei etwas, was ei
nen Erfahrungsbereich betref
fe, der allen Menschen zukom
me? «Kultur ist Erregungspo
tential, Kultur ist Zorn und Wut
über das, was nicht so ist, wie
es sein soll.» Camartin stellte
die These auf, «dass alles das
Kultur ist, was uns dazu bringt,
die Wirklichkeit gesteigert
wahrzunehmen. Damit ist sie
ein Alltagsbedürfnis.» Damit
sind Kultur und Kunst vor al
lem aber eine Sinnenschulung,
so wie sie die Schule in Berlin-
Neukölln z. B. pflegt. Eine der
«Zehn Thesen zur Kulturpoli
tik» der Regierung lautet: «Die
Auseinandersetzung mit Kunst
und Kultur sowie das Kennen
lernen anderer Kulturen muss
ein zentraler Bildungsinhalt
der Schulen und der übrigen
Bildungsinstitutionen sein. Da
bei ist das Verständnis für das
kulturelle Schaffen und die ak
tive kulturelle Betätigung in al
len Altersstufen zu fördern und
zu vertiefen.» Wenn diese
Grundforderung kein Lippen
bekenntnis sein soll, die Lehr
planrevision lässt dies aller
dings befürchten, wenn man
Querdenker und Chaoten will,
wenn man Kultur nicht als
Überbau verstehen will usw.,
dann brauchen jene im Staat
für Kultur Verantwortlichen
auch den Dialog mit den
Kunstschaffenden, brauchen
die Zusammenarbeit mit jenen
«Chaoten». Denn wenn Andrea
Willi sagt, «unser Land braucht
Kultur», heisst das auch, man
will etwas ändern. Und dazu
braucht es die Kultur als «Erre
gungspotential, als Zorn und
Wut über das, was nicht so ist,
wie es sein soll» - beginnend
im schulischen Bereich, um
Fremdem gegenüber Offenheit
und Toleranz zu zeigen und so
zu einer Grenzen und Rassen
überwindenden Kulturgemein
schaft zusammenzuwachsen.