Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

6 Samstag, 16. Dezember 2000 
75 JAHRE STAATSGERICHTSHOF 
Liechtensteiner VOLKSBUTT 
«Der sicherste Garant» 
Dr. Herbert Wille: Entstehung, Ausgestaltung und Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit 
Mit umfassenden Vorträ 
gen zu der 75-jährigen 
Geschichte des Staatsge 
richtshofs lud das Liech- 
tenstein-Institut gestern 
Abend in den Kapitel 
saal nach Bendern. Nach 
den Begrüssungsworten 
des stv. Vorsitzenden 
des Liechtenstein-Insti 
tuts, Georges Baur, sprach 
Dr. Herbert Wille zur 
liechtensteinischen Ver 
fassungsgerichtsbarkeit. 
Iris Frick-Ott 
«Nach 1920 und insbesondere 
in der neueren Zeit hat sich im 
mer mehr die Auffassung 
durchgesetzt, dass ein unab 
hängiges Gericht der sicherste 
Garant für die Beachtung der 
Verfassung ist», referierte Dr. 
Herbert Wille, Forschungsbe 
auftragter für Rechtswissen 
schaften am Liechtenstein-In- 
stitut. Die Verfassungsrecht 
sprechung wird in Liechten 
stein vom Staatsgerichtshof 
ausgeübt. Die Verfassung 1921 
hat den Staatsgerichtshof in ei 
nem eigenen Abschnitt institu 
tionalisiert. Zuständigkeit und 
Organisation sind in der Ver 
fassung 1921 in den Grundzü 
gen festgelegt und im Gesetz 
vom 5. November 1925 über 
den Staatsgerichtshof, das am 
19. Dezember 1925 in Kraft ge 
treten ist, näher ausgeführt. 
Heute gelte, so Herbert Wille, 
eine Verfassungsgerichtsbarkeit 
- also eine Gerichtsbarkeit in 
Fragen der Verfassung und zum 
Schutz der Verfassung - in vie 
len Rechtsstaaten als selbstver 
ständlich. Der Referent zeich 
nete den teilweise schwierigen 
Weg bis zur Geburtsstunde des 
Staatsgerichtshofes auf und 
spannte den Bogen zum Aus 
druck «Verfassungsgerichtsbar 
keit». Die Verfassungsgerichts 
barkeit wird heute in Lehre und 
Rechtsprechung trotz der Viel 
falt der einem Verfassungsge 
richt übertragenen Kompeten 
zen und der Unterschiedlichkeit 
der einzelnen verfassungs 
rechtlichen Verfahren als 
<verselbstständigte Jurisdiktion 


genden, d.h. nach einer Total 
revision der Verfassung verlan 
gen. Es wird das monarchische 
Staatsgebilde, wie es in der ■ 
konstitutionellen Verfassung > 
1862 zutage tritt, hinterfragt ! 
entwurf von Wilhelm Beck 
Rechnung tragen. Legte Wil 
helm Beck in der Verfassungs 
diskussion besonderen Wert auf 
die Stärkung des individuellen 
Rechtschutzes, betonte der da 
malige Regierungschef Josef 
Peer den Schutz der Verfas 
sung, wie er ihn im österreichi 
schen Verfassungsgesetz ga 
rantiert sah. 
Gewaltenbalance 
Nach seinen Ausführungen 
zur Entstehungsgeschichte des 
Staatsgerichtshofes ging Her 
bert Wille auf die Bedeutung 
der Verfassungsgerichtsbarkeit 
ein: «Die verfassungsgerichtli 
che Rechtsprechung verschafft 
dem Staatsgerichtshof die 
Möglichkeit, in erheblichem 
Masse auf die anderen Staats 
funktionen einzuwirken. Insbe 
sondere auf die Gesetzgebung 
(Uni Zürich) sowie ehemaliges 
Mitglied (während 11 Jahren) 
des Liechtensteinischen Staats 
gerichtshofs sprach zum Thema 
«Recht - Gericht - Gerechtig 
keit: Eine Perspektive aus dem 
Völkerrecht». Dabei stellte Da 
niel Thürer den Begriff Gerech 
tigkeit ins Zentrum: «Was ist 
Gerechtigkeit?», lautete seine 
Frage. Der Professor erinnerte 
sich an seine Studienzeit, als er 
sich mit seinen Kollegen eben 
dieser Frage widmete: «In den 
Vorlesungen war kaum von Ge 
rechtigkeit die Rede. In den Re 
gistern zur Judikatur und in 
den grossen Kommentaren fan 
den sich nur wenige Vermerke 
zu diesem Stichwort». Während 
seiner Amtszeit beim liechten 
steinischen Staatsgerichtshof 
begleitete ihn die Frage immer 
noch und am gestrigen Abend 
stellte Daniel Thürer dazu vier 
Dr. Herbert Wille: *Die Verfassungsrechtsprechung wird in Liechtenstein vom Staatsgerichtshof aus 
geübt». (Bilder: Daniel Büchel und Klaus Schädler) 
über Verfassungsfragen» ver 
standen. Es ist auch verschie 
dentlich die Rede von einer 
•Rechtsprechung unmittelbar in 
Verfassungsfragen). Charakte 
ristisch für das Verfahren ist, 
dass das Verfassungsrecht den 
<Kern des Rechtstreits» bzw. die 
«Verfassung unmittelbar als das 
zu schützende Rechtsgut» den 
Gegenstand des Rechtsstreites 
bildet», führte Herbert Wille 
aus. 
Nicht mehr zeitgemäss 
Mit der Entstehung politi 
scher Parteien nach 1914 kam 
der Ruf nach Reformen des 
monarchischen Staatswesens: 
Die christlich soziale Volkspar 
tei forderte eine Demokratisie- Erbprinz Alois (Mitte) im Gespräch mit lic. iur Harry Gstöhl 
rung. Sie machte veränderte (rechts) und Dr. Martin Schubarth. 
Zeitverhältnisse geltend, die 
nach einer Neuorientierung 
und damit nach einer grundle- 
FBP-Fraktionssprecher Dr. Marco Ospelt (links) und Dr. Hilmar 
Hoch, Mitglied des Staatsgerichtshofes. 
und als nicht mehr zeitgemäss 
erachtet. Die Partei postuliert 
einen «Staatsgerichtshof zum 
Schutze der verfassungsmässi 
gen Rechte der Bürger». Diesem 
Positulat soll der Verfassungs 
und damit auf die Tätigkeit der 
Regierung sowie auf die Recht 
sprechung der Gerichts- und 
Verwaltungsbehörden. Es war 
eine kluge Entscheidung des 
Verfassungsgebers, wenn der 
Staatsgerichtshof dem Gesetz 
geber als Kontrolleur beigege 
ben worden ist, weil letztlich 
nur er die Gewaltenbalance 
herstellen und die in dem dua 
len Verfassungssystem imma 
nenten Gefahrdungen bzw. den 
«Spannungen in der liechten 
steinischen Verfassungsord 
nung» begegnen und ihnen 
Rechnung tragen kann». 
Recht, Gericht und 
Gerechtigkeit 
Prof. Daniel Thürer vom 
Institut für Völkerrecht und 
ausländisches Verfassungsrecht 
Thesen auf: 1. Gerechtigkeit 
bedeutet grundsätzlich die Ein 
haltung der Gesetze. 2. Voraus 
setzung für die Legitimität der 
Gesetze ist, dass sie ihrerseits in 
einem «fairen» Verfahren zu 
stande gekommen sind. 3. Aus 
nahmsweise kann sich der Ge 
rechtigkeitsgedanke «korrektiv» 
gegen das (einfache) Gesetz 
durchsetzen, dies in Form des 
Willkürverbots und anderer 
verfassungsrechtlicher Prinzi 
pien. 4. Das letzte Wort der 
Versöhnung der Gebote der 
Rechtssicherheit und Gerech 
tigkeit liegt beim Richter, ins 
besondere beim Verfassungs 
richter. Der Universitätsprofes 
sor aus Zürich unterstrich seine 
Thesen mit Beispielen und 
schloss sein Referat mit völker 
rechtlichen Perspektiven. 
Die Feierstunde in Bendern wurde von Markus Gsell musikalisch 
umrahmt. 
Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Staatsgerichtshofes lud das Liechtenstein-Institut gestern in Bendern zu einer akademischen 
Feierstunde in den Kapitelsaal in iBendern ein. 
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