Liechtensteiner VOLK$BLATT
KULTUR
Montag, 16. Oktober 2000 1 1
«Die ganze Welt ist wie verhext»
Die «Comedian-Harmonist-Story» auf der Bühne des Theater am Kirchplatz
Wer kennt sie nicht, die
Ohrwunn-Melodien der
«Comedian Harmonists»,
z. B. «Veronika, der Lenz
Ist da, die Mädchen sin
gen tralala. Die ganze
Welt ist wie verhext:
Veronika, der Spargel
wichst!»
Gerolf Hauser
Nach diesem Lied ist das Stück
benannt, in dem Gottfried
Grriffcnhagen die Erfolgsge
schichte erzählt - und selbst
zum Riesenerfolg wurde im Zu
ge der Renaissance der Come
dian jHarmonists (preisgekrön
ter Fernsehfilm «Die Comedian
Harmonists - Sechs Lebensläu
fe»; zeitgleiches Anlaufen eines
Spielfilms (von Joseph Vilsmai-
er) und eben jenes Bühnenstück
von Gottfried Greiffenhagen
unter der musikalischen Lei
tung von Franz Wittenbrink in
der Berliner Komödie am Kur-
furstendamm.
Lebendig und offen
«Veronika der Lenz ist da»
lebt von den Songs der Come
dian Harmonists - und ihrer
gesanglichen wie spielerischen
Live-lnterpretation durch And
reas Barth, Ronald Diekmann,
Heie Erchinger, Urs-Werner Ja-
eggi, Wolfgang Krämer, am
Klavier grossartig begleitet von
Jörg Daniel Heinzmann und
Gisbert-Peter Terhorst in diver
sen Rollen, z. B. als Impresario
Bruno Levi oder Nazisoldat.
Autor Greiffenhagen meinte,
es ginge ihm nicht um histori
sche Treue, sondern darum, «ei
ne Handlung zu erfinden, die
frei, lebendig und offen genug
ist, um ein Spielvolumen für
Die Commedian Harmonists begeisterten mit ihren Gesangseinlagen das Publikum.
die Lieder der Comedian Har
monists zu bilden.» Das ist ihm
und Regisseur Martin Woelffer
zweifellos gelungen.
Erfolgsgeschichte
Was machte die Comedian
* Harmonists, die erste deutsche
«Boygroup», so erfolgreich?
Hier spielt der historische und
gesellschaftliche Hintergrund
der Zeit zwischen Ende der
20er Jahre und 1935 eine gros
se Rolle. Die fünf Original Har
monists, Hany Frommermann,
Erich Collin, Erwin Bootz, Ari
Leschnikoff, Robert Biberti, Ro
man Cycowski, sangen in der
Zeit der Arbeitslosigkeit und
politischen Umbrüche mit ihren
fröhlichen Texten gegen die
herrschende Depression an -
und das, in der Ära vor der Mi
krofonverstärkung, mit brillan
ter Vortragskunst und komödi
antischer Originalität und ei
nem Repertoire, das von witzig
getexteten Schlagern (z. B.
«Schöne Isabella von Kastili
en», «Mein kleiner grüner Kak
tus», «Blumentopp», «Ein
Freund, ein guter Freund»} über
klassische Adaptationen bis hin
zu Volksliedern reichte. Neben
Auftritten in Kabaretts, Kon
zertreisen und Schallplatten
verkäufen wirkten sie auch in
Filmen wie «Die Drei von der
Tankstelle» (mit Heinz Rüh
mann) mit.
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rfllante Vortragskunst
Brillante Vortragskunst zeig
ten Andreas Barth, Ronald
Diekmann, Heie Erchinger, Urs-
Werner Jaeggi, Wolfgang Kra
mer und Jörg Daniel Heinz
mann am Klavier in «Veronika,'
der Lenz ist da». Es verblüffte,
wie locker die Fünf von der
Sprech- zur Gesangsstimme
wechselten, vom Harmonist auf
der Bühne zum privaten Har
monist im Hinterzimmer einer
Berliner Wohnung, in der
geübt, geschimpft, gezweifelt
und gehofft wird, bis schliess
lich der Erfolg eintritt. Zu ver
muten ist, dass was von den
Original Harmonists berichtet
wird («eiserne Disziplin und
harte Probenarbeit Hess sie
über sich selbst hinauswach
sen») auch für das Ensemble der
(Bild: Ingrid)
Komödie am Kurfürstendamm
gilt, denn was sie boten rief zu
recht Beifallsstürme im TaK
hervor. Nur knapp gezeigt al
lerdings wird die Tragik des
Ensembles, von der Einschrän
kung der Auftrittsmöglichkei
ten durch die Machtergreifung
der Nationalsozialisten (drei
der Mitglieder sind Juden) bis
zum Verbot (entartete Musik),
Auseinanderbrechen der Grup
pe (Frommermann, Cycowski
und. Collins mussten emigrie
ren) und juristischen Streitig
keiten untereinander.
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Der neue «Harry Potter»
Spannender Spass, aber keine grosse Literatur
HAMBURG: Wohl selten ist
ein Kinderbuch mit so viel
Spannung erwartet worden,
nicht oft haben sich Hundert
tausende von Lesern auf allen
Kontinenten auf ein neues
Abenteuer eines 14-jährigen
Helden gestürzt.
Und seit Menschengedenken
hat auf der Titelseite der ehr
würdigen Londoner «Times»
keine Kinderbuchrezension das
übrige Weltgeschehen in den
Schatten gestellt. Joanne K.
Rowling hat dieses kleine Wun
der mit ihrem vierten Buch fer
tig gebracht.
Aber «Harry Potter und der
Feuerkelch» ist eigentlich kein
literarisches Phänomen, son
dern eines der modernen Me
dienwelt. Der neue «Potter» bie
tet wenig Überraschungen im
Vergleich zu den drei vorange
gangenen Bänden.
Neue Würze
Harry, der in der normalen
Welt der so genannten Muggels
aufgewachsen ist, muss in der
magischen Umgebung des Zau-
ber- Internats Hogwarts allerlei
Abenteuer bestehen, gegen
dunkle Kräfte ankämpfen, In
trigen und falsche Freund
schaften aufdecken - wer die
ersten Bände gelesen hat, kennt
das schon.
Aber Joanne K. Rowling
sorgt mit ihrem nun auch in
deutscher Übersetzung erschie
nenen vierten Band für neue
Würze. Da treten Nebenfiguren
aus den ersten Bänden in den
Vordergrund, werden neue
Freundschaften geschlossen -
nicht zuletzt, weil die Haupt
personen Harry, Ron und Her
mine älter und damit auch
empfanglicher für die Reize des
anderen Geschlechts geworden
sind.
Harry Potter, inzwischen 14
Jahre alt, ist aber auch in die
sem Schuljahr von den dunklen
Kräften seines Feindes Lord
Voldemort bedroht. Erstmals
tritt dieser gleich zu Anfang
des Buches auf und schmiedet
mit einem Komplizen Mordplä
ne. Obwohl Harry eine Ahnung
hat, überwiegt die Vorfreude
auf das Wiedersehen mit den
Freunden irt Hogwarts, zumal
in diesem Jahr ganz neue
sportliche Herausforderungen
auf den jungen Helden der Ge
schichte warten.
Weg von TV und Compu
ter
Mit einem Drachenkampf
fängt es an, Nixen und ein Irr
garten sind die nächsten Hin
dernisse, aber Rowling hat wie
immer dafür gesorgt, dass sich
ihr Held 800 Seiten lang
wacker gegen die Konkurrenz
schlagen kann. Und auch
Hanys engste Freunde werden
ihn in den kommenden Aben
teuern weiter begleiten - nach
der Ankündigung, eine der
Hauptpersonen werde sterben,
eine beruhigende Erkenntnis.
Es sind also nicht überraschen
de Wendungen oder ganz neue
Welten, mit denen die Autorin
ihre Leserschaft fasziniert. Die
Sprache - im englischsprachi
gen Original so einfach und
klar, dass auch viele deutsche
Schüler sich an das dicke Buch
herantrauten - ist nach Ansicht
von Literaturkritikern ebenfalls
wenig dazu geeignet, den spek
takulären Erfolg von Harry
Potter zu erklären. Dennoch
freuen sich Lehrer und Eltern
allerorten darüber, dass die
Kids wieder zum Buch greifen -
weg von Fernsehen und Com
puter und von allem, was weit
hin als schädlich für die Fanta
sie gilt. Der kleine Potter aber
lebt eben nicht nur zwischen
Buchdeckeln, sondern auch auf
Tausenden von Fan-Seiten im
Internet, er ist Thema in TV-
Shows, er spielt eine Hauptrolle
im Unterricht - im kommenden
Jahr soll er auf der Kinolein
wand sein Debüt geben. Da
kann man es sich als Kind
kaum noch leisten, die Bücher
- Rowling plant insgesamt sie
ben Potter-Bände - nicht gele
sen zu haben. Und auch viele
Erwachsene möchten eben wis
sen, worum es bei der neuen
Modewelle in den Kinderzim
mern geht, das ist mit Harry
Potter nicht anders als mit Po-
kemon, den Teletubbies oder
der Moorhuhnjagd.
«Suche nach dem
Absoluten»
Giacometti-Ausstellung in Belgien
BRÜSSEL: Wie kaum ein an
derer Bildhauer hat Alberto
Giacometti verstanden, das
Lebensgefuhl einer ganzen
Epoche in Bronze zu giessen.
Anders als der verspielte
Alexander Calder oder der
Ästhet Henry Moore zielte er
direkt auf das Selbstbild der
Menschen, das durch den
Zweiten Weltkrieg ins Wan
ken geraten war.
Als internationaler Auftakt für
die Ausstellungen zum 100. Ge
burtstag Giacomettis im kom
menden Jahr sind in dem belgi
schen Schloss Seneffe bei Brüs
sel seit Sonntag rund hundert
Skulpturen, Gemälde und Zeich
nungen des 1966 in Chur ge
storbenen Künstlers ausgestellt.
Die Retrospektive, deren Leihga
ben der französischen Fondati-
on Maeght anschliessend nach
New York und Zürich Weiterrei
sen, ist in Belgien bis zum 15.
Januar zu sehen. Mit herausra
genden Werken gibt die konzen
trierte Präsentation einen präg
nanten Überblick über rund 40
Schaffensjahre des Bildhauers,
der vor allem durch seine über
langen Menschenflguren be
kannt wurde. Arbeiten aus Pri
vatbesitz wie zwei herausragen
de Bildnisse der Mutter und des
Bruders Diego fügen besonders
bei den Gemälden der Werk
schau selten gezeigte Facetten
hinzu.
Das intellektuelle Paris zwi
schen Exotismus und Existen-
zialismus prägte Giacomettis Le
ben. Die riesige «Löffelfrau»
(1926), rundliches Symbol weib
licher Fruchtbarkeit, lässt ihr
afrikanisches Vorbild ebenso
wenig übersehen wie das auf ar
chaische Knappheit reduzierte,
fetischartige «Paar», das ganz
mit dem Gegensatz der Ge
schlechter spielt.
Als letztes Meisterwerk der
nur spärlich präsenten surrealis
tischen Zeit Giacomettis gilt
«Das unsichtbare Objekt» von
1934. Die schlanke und gedehn
te Frauenfigur kündigt jenseits
aller Anleihen an gotische Ma
donnenbildnisse oder an die an
tiken Statuetten der Ägäis be
reits .die Menschendarstellung
als Leitmotiv Giacomettis an.
Stelenartige «materielose» Men
schenbilder mit schrundiger
Bronze- Oberfläche signalisieren
Verletzlichkeit und Verstörtheit,
werden Kennzeichen des Nach
kriegswerks. Der Philosoph Jean
Paul Sartre nennt 1948 das
Schaffen Giacomettis die «Suche
nach dem Absoluten». Nach An
sicht vieler Kritiker verleiht Gia
cometti der Absurdität mensch
lichen Daseins bildlichen Aus
druck und gibt dem Existenzia-
lismus damit sichtbare Gestalt.
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