Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2000)

Liechtensteiner Volksblatt 
Inland 
Mittwoch, 30. August 2000 3 
«Die Mädchen sind bitter enttäuscht! » 
Vandalismus und Zerstörungswut an Liechtensteins Schulen: Frustration und Zukunftsangst als Ursachen 
In den vergangenen Tagen und 
Wochen hat das «Liechtensteiner 
Volksblatt» mehrmals über Ge 
walt an Schulen berichtet. Die Ar* 
tikel haben für einigen Aufruhr 
und auch für Reaktionen gesorgt: 
Besorgte Leserbriefe und Anrufe. 
Wir berichteten von körperlicher 
und verbaler Gewalt. Aber zur 
Gewalt an Schulen gehören auch 
Zerstörungswut und Sachbeschä 
digung. Zu einer Serie von Vanda 
lismus ist es nun am Schulzentrum 
Unterland gekommen: Dort wur 
den zwei Ausstellungsobjekte, die 
im Rahmen der Aktion «Mädchen 
in Männerberufen» am Schulhof 
präsentiert wurden, total zerstört. 
Erich Walter de Meijer 
«Ich bin sehr betroffen und auch sehr 
enttäuscht», berichtet der Klassenleh 
rer Arno Brändle - einer jener Lehrer, 
die dieses Projekt betreut haben. «Die 
Mädchen hatten so viel Spass bei der 
Aktion und waren auch sichtlich stolz 
auf das, was sie geleistet haben. Und 
jetzt ist alles kaputt. Ich kann das nicht 
verstehen, ich bin schockiert.» 
Gedanken um die Zukunft 
Das Projekt ist landesweit durchge 
führt worden mit Dritt- und Viertkläss- 
lern: «Es war eine überaus interessante 
Angelegenheit», erinnert sich Arno 
Brändle. «Wir haben ganz bewusst 
Mädchen aus der dritten und vierten 
Klasse ausgewählt - der Grund dafür 
liegt auf der Hand: Die Drittklässler 
sind in der Regel mittendrin in der Be 
rufswahl, die Viertklässler haben sie 
schon hinter sich. Wir haben mit den 
Mädchen eine Karosseriespenglerei in 
Bendern besucht. Pitsch's Garage hat 
dort zwei Autos bereitgestellt und die 
Handwerkerinnen in spe konnten sich 
an die Arbeit machen. Allerdings wurde 
dort mehr lackiert als gespenglert. Aber 
das hat nichts ausgemacht - Hauptsa 
che, die Mädchen hatten ihren Spass.» 
Am vorletzten Schultag, also vor knapp 
siebeneinhalb Wochen, wurden die bei 
den Autos am Schulhof ausgestellt - 
und in weiterer Folge wäre geplant ge 
wesen, die beiden Vehikel auch bei der 
Endveranstaltung vorzustellen. 
Das geht jetzt nicht mehr: Nach den 
Ferien musste leider festgestellt wer 
den, .das beide Autos mutwillig kaputt 
gemacht worden sind. Kühlergrill und 
An den beiden Autos wurde so ziemlich 
alles zerstört, ms nicht niet- und nagel 
fest ist. Schade drum... 
Scheinwerfer fehlten gleich nach den 
Ferien - «Ich vermute,dass die Autos da 
jemand ausschlachten wollte, da hat 
sicher jemand was brauchen können. 
Mir schaut das nach Diebstahl aus.» Ab 
Schulbeginn dann wurde der Schaden 
jeden Tag grösser - «Heute haben wir 
den, siebten Schuhag, und keines der 
beiden Autos ist mehr zu gebrauchen. 
Da ist alles zerstört, was man nur zer 
stören kann, da ist alles abgerissen, was 
man nur abreissen kann: Seitenspiegel, 
Zierleisten, kein Reifen hat mehr Luft - 
alles aufgeschlitzt. Auf Dach und Küh 
lerhauben ist man herumgetrampelt, 
alles verbeult. Die Stossstangen sind ab 
Arno Brändle ist ratlos und schockiert: Die beiden Ausstellungsstücke wurden völlig zerstört.«Man kann die Objekte nicht mehr 
gebrauchen. Hier Hegen Diebstahl und Zerstörungswut vor. (Bilder: bak, de Meijer) 
Spiegel kaputt... 
reich angezeigt.» 
Eltern, Lehrer, Schule sind also auf 
gerufen, Ziele gemeinsam umzusetzen. 
Arno Brändle fasst die Massnahmen im 
Telegrammstil zusammen: «Unsere 
Wirtschaft muss Mittel in Ausbildung 
und Qualifikation junger Menschen in 
vestieren. Wir müssen den Kindern Per 
spektiven bieten und ihnen Ängste vor 
der Zukunft nehmen. Wir müssen den 
Schwächeren Chancen geben. Einstein 
war auch einmal ein Schulversager. Al 
le an der Erziehung beteiligten sollten 
sich mehr Zeit nehmen und vermehrt 
auch Grenzen setzen. Und noch etwas: 
gerissen, die Scheibenwischer verbo 
gen. Ich bin wirklich enttäuscht», muss 
Brändle zugeben: Die Mädchen hätten 
so intensiv an den Objekten gearbeitet, 
und in nur sieben Tagen ist alles zer 
stört. 15 Mädchen haben mitgemacht an 
der Aktion. «Wir wissen leider nicht, 
wer da alles beteiligt war an diesem 
Vandalismus, obwohl ich schon meinen 
Verdacht habe. Ich schäme mich wirk 
lich für die Schüler hier. Der materielle 
Schaden ist zwar gering, aber Arbeit 
und die gesamte Initiative waren völlig 
umsonst. Es ist schlimm, wenn man er 
kennen muss, dass die Dinge, die ande 
re geschaffen haben, keine Wertschät 
zung erfahren.» 
Formen der Gewalt 
Körperliche Gewalt, verbale Gewalt, 
Mobbing und Zerstörungswut. Das 
Thema bleibt aktuell. Klassenlehrer 
Arno Brändle stellt sich die Frage, wa 
rum das so ist. Und er glaubt, dass er 
einige Antworten darauf gefunden hat: 
«Ich habe kürzlich ein interessantes 
Symposium, organisiert vom Institut für 
Soziale Dienste, besucht. Der dortige 
Amtsleiter, Marcus Büchel, habe er 
klärt, dass es an einer «Restschule», wie 
es die Oberschule in Liechtenstein dar 
stellt, ein höheres Gewaltpotential ge 
ben muss - höher als anderswo, weil 
hier die Existenz- und Zukunftsängste 
einfach grösser, und die Zukunftschan 
cen geringer sind. «Die Anzahl der Be 
rufe, die für unsere Schulabgänger in 
Frage kommt, ist gering und sie sinkt 
ständig weiter. Realistisch betrachtet 
gibt es beispielsweise für Mädchen nur 
noch eine Handvoll Berufe, die attrak 
tiv sind. Der Arbeitsmarkt gibt diesbe 
züglich nichts mehr her. Die Bürolehre, 
früher ein klassischer Mädchenberuf; ist 
praktisch nicht mehr existent. Vor eini 
gen Jahren noch», erinnert sich Bränd 
le, «konnten wir oft die Hälfte einer 
Klasse in diesem Bereich unterbringen. 
Heute ist das nicht mehr möglich. Die 
Schüler merken das spätestens in der 
dritten Klasse. Es ist einfach ungerecht: 
Da gibt es Schüler mit hervorragenden 
Rechenleistungen - Schüler, die pro 
blemlos auch die Realschule geschafft 
hätten - aber trotzdem bleibt die Türe 
zu. Ich hatte einen Schüler, der war ein 
fach erstklassig - seine Leistungen ha 
ben mich beeindruckt. Wenn ich eine 
Firma hätte - den hätte ich sofort ge 
nommen. Ein Superzeugnis, aber leider 
halt ein Oberschulzeugnis. Mit dem ist 
er nirgends untergekommen.» 
Warum passieren solche Dinge? 
Brändle gibt dem hiesigen Schulsystem 
die Schuld - ein Schulsystem, das dem 
Realschüler viele, dem Oberschüler 
aber kaum Chancen gibt. «Der Real 
schüler hat im Endeffekt die besseren 
Karten, weil er das bessere Image hat», 
resümiert Brändle. 
Grabenkämpfe^ 
Die Gewalt gigen jOinge, resultiert 
aus dieser Frustration. Zum bösen 
Cocktail der moderrieh' Zeiten kommt 
noch ein weiteres gefährliches Moment 
hinzu. «Mir ist aufgefallen, dass die Ge 
walt gegen Dinge und feinrichtungsge- 
genstände schleichend, aber kontinu 
ierlich zunimmt - die gewalttätige Aus 
einandersetzung miteinander hat in 
Summe aber abgenommen. Aber: Die 
Qualität der Gewalt ist heute, wenn sie 
eskaliert, eine ganz andere als früher. 
Es gibt Mobbing, den kleinen Terror, es 
gibt die kleinen Nötigungen. Kinder 
und Jugendliche haben es verlernt, mit 
ihren Aggressionen umzugehen. Früher 
gab es die kleinen Graben- und Rang 
kämpfe, die Streitereien und Rauferei 
en. Kurz und bündig >- und der Fall war 
erledigt. Heute wissen die Schüler nicht 
mehr, mit Gewalt unizugehen. Sie ken 
nen heute nämlich eine ganz andere 
Gewalt - vom' Fernsehen und vom 
Computerbildschirm. Dort bringt Ge 
walt pro Einheit 100, 200 oder 1000 
Punkte - und dort ist brachiale Gewalt 
das Lösungsmittel schlechthin», bedau 
ert Arno Brändle. Mittels der neuen 
Medien haben Kinder heute scheinbar 
gar keine Chance mehr, das richtige Ge 
spür für Gewalt zu entwickeln. Sie wen 
den das Computerspiel'fUrs Leben an, 
wie es scheint. Der Tod ist etwas ganz ir 
reales, das man nicht kennt - und 10 000 
am Bildschirm: Das; ist eine irreale 
Grösse und nur einen Knopfdruck wert. 
Ob man es nun glaubt oder nicht 
glauben will: In Liechtenstein gibt es 
auch eine rechtsradikale Szene. «Aus 
wirkungen davon sind auch hier an der 
Schule spürbar - unc^ sie haben in den 
vergangenen 10 Jahren stark zugenom 
men. Ich selbst hatte schon vier selbst 
deklarierte Skinheads in meiner Klasse. 
Das Problem nimmt zu. Wir haben 
eine erschreckend hohe Anzahl von 
Skinhead-Imitaten mit Stahlkappen 
schuhen, Bombetjacken, glattrasierten 
Köpfen und rechtsextremen Sprüchen. 
Die sind in ihrem Verhalten gegenüber 
Ausländern in der R6gel sehr provo 
kant - es kommt gelegentlich auch zu 
Pöbeleien. Sie zeigen prägnantes Ma- 
cho-Gehabe und es kursieren übelste 
und auch verbotene rechtsradikale 
Machwerke: Musik von den «Zillertaler 
Türkenjägern» und von «Störkraft». In 
den Besitz solcher verbotenen Dinge zu 
kommen set in Zeiten des Internets 
auch nicht schwer. 
Im Dunstkreis der Skinheads 
Die Szene lebt und auch das Amt für 
Soziale Dienste hat sich in einer Studie 
mit dem Rechtsradikalismus in Liech 
tenstein auseinandergesetzt und Mass 
nahmen entwickelt, wie dagegen vorzu 
gehen ist. Dort heisst es unter anderem: 
«Zum engsten Kern der Skinheadszene 
in Liechtenstein dürften derzeit ca. 10 
Personen gehören, zum sich bekennen 
den Sympathisantenkreis ca. zwanzig 
Personen. Dazu kommen noch einige 
Nachahmer. (...) Es ist davon auszuge 
hen, dass informelle Strukturen vorhan 
den sind. Organisiert werden hingegen 
lYeffen, gemeinsame Freizeitgestaltung 
und Aktionen. Es ist davon auszugehen, 
dass vor allem engagierte Skinheads re 
gelmässig Kontakt zu Organisationen 
in der Schweiz und Österreich sowie im 
weiteren Europa unterhalten. Die zahl 
reichen Gewaltanwendungen von 
Skinheads wurde von einem kleinen 
Personenkreis in unterschiedlicher Zu 
sammensetzung ausgeübt. (...) Ausge 
hend von diesen Umständen ist die Ein 
haltung der rechtsstaatlichen Prinzipi 
en notwendig und es sind Massnahmen 
im erzieherischen und beratenden Be- 
Vie/e Stunden Arbeit umsonst. Vandalen 
haben keinen Respekt vor fremdem Gut. 
Der Landtag sollte seine Entscheidung, 
die Schulstruktur in Liechtenstein nicht 
zu verändern, nochmals überdenken. 
Das Fürstenhaus hat das ja schon vor 
Jahren die Schaffung einer Hochbegab- 
tenklasse angeregt. Das wäre eine gute 
Ergänzung zum Vorschlag der Regie 
rung. Derzeit muss der Oberschüler 
denken, dass er - egal wie er sich auch 
anstrengt - im Berufsleben eh keine 
Chance hat. Das ist nicht nur leistungs- 
tötend, sondern auch ungerecht.» 
Zerstörungswut an Ausstellungsstücken: Blinker und Lichter sind eingeschlagen, 
Scheibenwischer abgerissen. Die Stossstangen wurden auch einfach abgerissen, aus 
allen vier Reifen wurde die Luft herausgelassen. Dach und Motorhaube sind ver 
beult. Die Mädchen verstehen die Welt nicht mehr... 
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V.
	        

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