12 Donnerstag, 24. August 2000
Land und Leute
Liechtensteiner Volksblatt
«Wer Wildtiere verstehen will, muss die
Lebensräume kennen»
Cipra-Sommerakademie: Den Referenten und den Studierenden ein paar Stunden über die Schultern geschaut
Eines gleich vorweg: Die Liebe zu
den Alpen ist bei allen Studieren«
den der Cipra-Sommerakademie
spürbar. Auch wenn die jungen
Frauen und Männer verschiedene
berufliche Hintergründe haben,
die Entwicklungen im Alpenraum
und die Möglichkeit, zu Problem-
lösungen beizutragen, schweisst
alle zusammen. Von Professor
Nievergelt erfahren die Teilneh
menden, dass man Wildtiere nur
verstehen kann, wenn man ihren
Lebensrauni kennt.
Acii Lippuner
Während draussen die Sonne ihre ers
ten Strahlen über den Klostergarten
von St. Elisabeth streichen lässt, sitzen
im Schulungsraum gut 20 junge Frauen
und Männer. Sie haben sich in Schaan
zur Sommerakademie der Cipra getrof
fen und wollen möglichst viel lernen.
Auf dem Programm steht die Unter
richtseinheit 7: «Lebensraum im Wan
del - Mensch und Wildtiere». Erstdr
Referent ist Professor Bernhard Nie
vergelt, Wildbiologe an der Universität
in Zürich.
Doch bevor der Professor sein Refe
rat startet, will er die Studierenden ken
nenlernen. Bereits bei dieser Runde
kommt der Übersetzer Roberto zum
Einsatz. Rund ein Drittel der Teilneh
menden spricht italienisch und verfügt
über wenig Kenntnisse in der deutschen
Sprache.
Vielfalt bei Mensch und Tier
«Diese Vielfalt der hier vertretenen
Fachrichtungen erinnert an die Vielfalt
der Wildtiere. Es gibt nicht das Wildtier,
die Tiere sind so vielfältig wie die Men
schen. Wenn wir für die verschiedenen
Tierarten et^as erreichen wollen, müs
sen wir diese kennen. Es ist wie bei ei
nem Gesprächspartner, nur wenn wir
unser Gegehüber kennen, können wir
etwas erreichen.» Mit diesen Worten ist
Professor Nievergelt schon mitten in
seinem Thema. Er arbeitet mit Bildern,
erzählt dazu eine kurze Geschichte und
will von den Studierenden wissen, wie
sie entscheiden würden oder was sie da
von halten.
Im Schulraum ist es still. Zu hören
sind nur die Ausführungen des Profes
sors und ganz leise aus der Kabine die
Stimme des Übersetzers. An die Wand
wird das Bild eines jungen Bisons, der
im Eis eingebrochen ist, projiziert. Da
zu die kurzen Ausführungen: «Das Tier
ist in einem Nationalpark ins Eis einge
brochen und konnte sich nicht mehr
selbst befreien. Das Ganze spielte sich
nahe einem touristischen Beobach
tungsposten ab. Sofort wollten Besu
cher des Nationalparks das Tier retten.
Dies wurde aber durch den verantwort
lichen Ranger mit der Begründung,
auch das ist Natur, verhindert.»
Schwieriger Entscheid
Auf die Frage, wie hättet ihr als ver
antwortlicher Ranger gehandelt,
herrschte zuerst ein paar Sekunden Stil
le. Dann als erstes die Worte des Klas
sensprechers: «Die Touristen haben
sich als Kommunikationspartner des
Tieres verstanden und wollten helfen.»
Mit einem leicht empörten Unterton in
der Stimme ein weiterer Teilnehmer:
«Ich wünsche dem Ranger, dass er ir
gendwo im Park ein Bein bricht und
sich dann als Teil der Natur betrachtet.»
Bei der vom Professor verlangten Ab
stimmung gehen die Hände nur zö
gernd in die Höhe. Rund die Hälfte gibt
Im Schulraum haben sich Angehörige dergleichen Sprachgruppe zusammengesetzt.
Im Bild ein Teil der italienisch und französisch sprechenden.
Professor Bernhard Nievergelt bringt den Studierenden der Cipra Sommerakade
mie mit seineti AilSftltlrungen die Vielfalt der Wildtiere näher. (Bilder: adi)
dem Ranger Recht, die andere Hälfte
stellt sich auf 'die Seite der Touristen.
Der Ranger habe sich für sein Eingrei
fen vor Gericht verantworten müssen,
erfahren die Studierenden. «Er ist aber
in einer fachlich hochstehenden Ver
handlung sogar von der obersten In
stanz freigesprochen worden. Von den
Richtern sei das Argument, «es ist wich
tig, dass man auch die Brutalität der Na
tur kennenlernt», akzeptiert worden.
Mit dem Bild von einem Strassenab-
schnitt vor dem Grossen St.Bernhard
wird eine weitere Diskussion um die
verschiedenen Wertungssichten lan
ciert. Gezeigt wird ein Strassenstück auf
Stelzen. «Was sagen der Autofahrer,
der Wanderer und die Wildtiere zu die
sem Bauwerk?» Hier muss der Profes
sor mit den Antworten helfen: «Für den
Autofahrer ist es bequem, der Wande
rer findet es scheusslich und ein Hase
oder Hirsch ist sicher froh, dass er unter
der Strasse durchgehen kann.»
Sich dem Lebensraum anpassen
Nach den Bildern und den daraus ent
standenen Diskussionen um Wertungs
ansichten geht es um die natürlichen
Besonderheiten im Alpenraum. Hier
wird schnei! deutlich, dass Wildtiere an
passungsfähig sein müssen, weil der Le
bensraum oft nur sehr kleinflächig ist.
Mit voller Konzentration verfolgen
die Studierenden die Ausführungen.
Sobald einer der italienisch sprechen
den Teilnehmerinnen oder Teilnehmer
etwas sagt, greifen die deutschsprachi
gen Kollegen zu den Kopfhörern, um
dem Gespräch folgen zu können.
Tücken der Technik
Während die ersten Sonnenstrahlen
nun auch den Schulraum erhellen, wird
fleissig am Thema «Lebensraum» wei
tergearbeitet. Für den Diavortrag der
Wildbiologin Karin Hindelang von der
Eidgenössischen Anstalt für Wald,
Schnee und Landschaft (WSL) müssen
die Rollläden geschlossen werden. In
geraffter Form lernen die Anwesenden
Wildtierspuren, verschiedene Lebens
räume aber auch die Lebensbereiche
der Steinböcke, der Gämsen, der Hir
sche, der Rehe, der Schneehühner,
Bartgeier und des Birkhuhns kennen.
Dass auch eine Sommerakademie
nicht vor technischen Problemen gefeit
ist, wird kurz vor der eigentlichen Pau
se spürbar. Zuerst versagt das Mikrofon
der Referentin den Dienst, dann kapi
tuliert auch der Diaprojektor. Mit ver
einten Kräften versuchen Referenten
und Studienleiter, die Technik wieder in
den Griff zu bekommen. Für die Stu
dierenden bedeutet dies: Die Pause
wird vorverlegt, der Unterricht geht
nachher weiter.
Der Übersetzer Roberto an seinem Ar
beitsplatz in der kleinen Kabine.
Der Klassensprecher Henning
mann aus Marburg (Hessen).
Meu-
Während der kurzen Pause gemessen die Studierenden und Professor Nievergelt (stehend) die Sonne im Klostergarten.
Konzentriertes A rbeiten: Im Bild ein Teil der deutsch sprechenden Teilnehmer.