Liechtensteiner Volksblatt
Sport
Freitag, 23. Juni 2000 17
MTB-Rennen in Ruggell
Spanien in Extremis
Camenzind Gesamtsieger
Aus mit Krampf und Kampf
Bilanz zu den Gruppenspielen: Die Fussball-EM mutiert zur Mittelmeer-Meisterschaft
Nach 24 Gruppenspielen in 13 Ta
gen steigt die EM 2000 in Holland
und Brüssel am Samstag in eine
neue Phase. Aufgrund der Viertel-
final-Teilnehmer kann man ab so
fort auch von einer Mittelmeer-
Meisterschaft mit Holland als
Gastgeber reden. Die geografi-
sche Ballung der acht Viertelfina
listen im Süden Europas sagt viel
über das Nivevau dieser Endrun
de aus: Kampffussball ist out, es
lebe die Kreativität
Die Gruppenspiele in Brüssel und
Holland haben Fussball-Europa zwei
geteilt: Mit Ausnahme von Holland sind
sämtliche Teilnehmer aus dem Norden
Europas bereits ausgeschieden, wäh
rend der Süden noch mit sieben Mann
schaften im Rennen liegt. Als positive
Ausnahme aus dem Norden hat sich
einzig Gastgeber Holland mit dr$i Voll
erfolgen in Szene gesetzt. Slowenien
vermochte sich als einziges Team aus
dem Süden nicht für die Viertelflnals zu
qualifizieren, doch der überraschende
Debütant hat sich dennoch Uber Erwar
ten gut verkauft. .
Die auffallende Ballung von starken
EM-Teilnehmern aus dem Mittelmeer-
Raum ist keineswegs zufällig: Der
Trend begann sich schon 1996 in Eng
land abzuzeichnen'. Stammte 1992 in
Schweden mit Frankreich nur einer von
acht Endrunden-Teilnehmern aus dem
Süden Europas, so kamen vier Jahre
später bereits die Hälfte (Portugal,
Kroatien, Frankreich und Spanien) al
ler Viertelfinalisten aus der Mittelmeer-
Region.
Viele Tore
Mit dieser Verschiebung einherge
hend hat auch der Fussball eine Wand
lung genommen. In Belgien und
Portugal und Rumänien (im Bild) Hessen in der Gruppe A die favorisierten Teams Deutschland und England alt aussehen.
Holland dominiert der lateinisch ge
prägte Stil. Spielfreude, technische Fer
tigkeiten, offensiv ausgerichtete Syste
me und glänzende Individualisten sorg
ten für ein hohes Niveau mit vielen To
ren. 65 insgesamt in 24 Spielen, was den
Schnitt von 2,7 Treffern pro Spiel ergibt.
Noch an keinem Endrunden-T\imier
mit Gruppenspielphase fielen derart
viele Tore. 1996 waren es 55, oder 2,29
im Schnitt; 1992 21 in 12 Spielen
(Schnitt 1,75), 1988 27 (2,25), 1984 32
(2,66) und 198022(1,83).
Für die Betonung der Offensive
spricht auch die Anzahl der Unentschie
den: Nur 4 Partier^ndleten in Belgien
und Holland mit einem Remis (zwei da
von 0:0). Vor vier Jahren waren es 7 Un
entschieden (zweimal 0:0) und vor acht
Jahren 5 (dreimal 0:0) gewesen.
Der neue Aufschwung und die Ab
kehr vom Defensiv-Fussball, der an der
WM 1990 in Italien und auch noch zwei
Jahre später bei der EM in Schweden
seinen Höhepunkt erlebte, hat seine
Ursachen auch in den neuen Regeln des
Weltfussball-Verbandes FIFA. Die
Stürmer werden besser geschützt
(Grätschen, Abseitsregel), die Verteidi
ger härter bestraft (Leibchenzerren,
Niederreissen), das Spiel schneller ge
macht (Goalieregel) und die Offensive
stärker belohnt (3-Punkte-Regel).
Reine Athletik ist out
Mannschaften, die vor allem auf Ath
letik und Kampffussball setzten, sind an
dieser EM die grossen Verlierer. Sie ha
ben den Wandel nicht erkannt und ihn
bei sich selber demnach auch nicht
in die Wege geleitet. Jetzt und in den
nächsten Jahren werden Nationen wie
Deutschland, England, Belgien, aber
auch Schweden, Norwegen und Däne
mark wohl für diese Mängel bezahlen.
Alleine mit Einsatz und Athletik kön
nen keine TUrniere mehr gewonnen
werden. In dieser Beziehung haben die
lateinischen Teams ihre Hausaufgaben
längstens gemacht, seit ihre besten
Spieler unter , anderem auch in nördli
chen Ligen'(Premier League, Bundesli
ga) engagiert sind.
Fussball noch schneller geworden
Mit der verbesserten Athletik ist der
Fussball in den letzten Jahren nochmals
deutlich schneller geworden. Tempo,
Druck und Pressing sind unglaublich in
tensiv. Das erfordert wiederum Fussbal-
ler, die ani Ball alles können, die auch
bei hohem Tempo und wenig Raum die
Übersicht nicht verlieren. Fussball-
«Spieler» sind gefragt, nicht Zerstörer,
die den Ball über die Tribünen dreschen
und dem eigenen Spiel Schwung und
Dynamik rauben. Es gab an dieser EM
bisher nur wenig solcher Szenen, und sie
werden in den Viertelflnals noch weni
ger, weil jene Mannschaften, die Uber
zuwenig gute Fussballer verfügen, be
reits ausgeschieden sind.
Auffallend ist an dieser EM auch der
Wandel in den Dispositionen und State
ments der Trainer: Nicht mehr die
Mannschaft ist der Star, wie es noch vor
vier Jahren mit penetranter Einhellig
keit betont wurde. Jetzt sind wieder In
dividualisten gefragt. Beste Beispiele
sind Hagi (Rumänien), Stojkovic (Ju
goslawien), Raul (Spanien), Figo (Por
tugal) oder Zahovic (Slowenien), die
sich in kein engmaschiges System einfü
gen lassen, sondern klare Freiräume be
anspruchen. Diese Freiheiten zahlen sie
aber mit Toren und herausragenden
Leistungen doppelt zurück.
Weitere Infos: www.euro2000.org
EM-Splitter
BUNDESLIGA VERABSCHIE
DET SICH. Nicht nur die deutsche
Nationalmannschaft, auch die meisten
Bundesliga-Legionäre haben sich
frühzeitig aus Belgien und Holland
verabschiedet. In den Viertelflnals
sind von ursprünglich 20 Bundesliga-
«Gastarbeitern» gerade noch 5 dabei:
Die Rumänen Munteanu (Wolfsburg)
und Ganea (Stuttgart), die Franzosen
Djorkaeff (Kaiserslautern) und Liza-
razu (Bayern MUnchen) sowie der Ju
goslawe Komljenovic (Kaiserslau
tern). Andere grosse Ligen stellen da
gegen noch reichlich Söldner: Spanien
25, Italien 17, England 14.
***
HÄME. Auch zwei Tage nach dem
blamablen Ausscheiden ihrer Natio
nalmannschaft geizten die deutschen
Medien nicht mit bösen Sprüchen. Ti
tel in einerTageszeitung: «Was wir ma
chen, lässt sich der Ball nicht gefallen.»
Zitat aus dem TV-Sender DSF: «Ein
zelkritik bringt nichts. Man kann alle
in einen Sack stecken, es trifft immer
den Richtigen.»
»♦*
DAUM. Christoph Daum hat alle Spe
kulationen beseitigt, dass er Erich Rib
becks Nachfolge als deutscher
Teamchef antreten könnte. «Ich sage
jetzt und hier: Christoph Daum steht
für die Position als Bundestrainer
nicht zur Verfügung, und damit verab
schiede ich mich aus der Diskussion -
und . das endgültig», liess sich der
Coach von Bayer Leverkusen im Ma
gazin «Kicker» vernehmen.
RÜCKTRITT. Der tschechische Cap-
tain Jiri Nemec (34) hat nach 82 Län
derspielen genug: Nach dem Spiel ge
gen Dänemark (2:0) erklärte der bei
den Mannschaftskollegen beliebte
Schalke-Mittelfeldspieler seinen
EURO
2000
Balgiuni'Th« Natharlands
Rücktritt aus dem tschechischen Na
tionalteam. Sein erstes Länderspiel
hatte Nemec im April 1990 in Brünn
noch für die damalige CSSR (0:1 ge
gen Ägypten) bestritten. 1996 wurde
er mit Tschechien EM-Zweiter und
ein Jahr darauf in seiner Heimait zum
«Spieler des Jahres» gewählt.
*»*
VORSICHTIG Der Patron eines
Amsterdamer Hotels offeriert seinen
Gästen für jedes holländische EM-Tor
einen Orangenjus. Allerdings will er
sich dabei nicht ruinieren und sorgt
deshalb vor. «Tore im Penaltyschies
sen zählen nicht», steht im Hotellift.
***
KEEGAN. Mit Kevin Keegan als
Cheftrainer beginnt England im Früh-
herbst mit den Vorbereitungen auf die
.Qualifikation für die WM 2002. «Wir
sind hundertprozentig davon über
zeugt, dass Keegan der richtige Mann
ist, um unser Team nach vorne zu brin
gen», sagte Adam Crozier, Exekutiv-
Direktor des englischen Verbandes
(FA).
. ♦**
VIELSEITIG. Der Spanier Gaizka.
Mendieta sprach nach dem histori
schen 4:3-Sieg über Jugoslawien von
einem persönlichen Rekord. «Auf drei
verschieden Positionen in einem
Match habe ich noch-nie gespielt.»
Tatsächlich begann der Spieler von
Champions- League-Finalist rechts im
Mittelfeld, bevor er nach dem verlet
zungsbedingten Ausscheiden von Fran
auf die linke Seite wechselte. Zuletzt
schliesslich, als die Spanier noch unbe
dingt zwei Tore erzielen mussten,
beorderte ihnRainer Camacho an den
rechten Flügel. ; '
♦**
FESTNAHMEN. In Belgien wurden
zwei Jugoslawen festgenommen, die
verdächtigt werden, Schiedsrichter
Veissiöre nach dem Spiel Spanien - Ju
goslawien (4:3) mit Münzen beworfen
zu haben. Der Franzose zog sich dabei,
lediglich eine Platzwunde zu. Dennoch
wird sich die UEFA heute Freitag mit
dem Fall befassen. Der jugoslawische
Verband müss mit einer Busse rech
nen.
Deutscher Fussball,
quo vadis?
Deutschland debattiert über Ribbecks Nachfolge
>•
Am Morgen nach dem desaströsen Aus
scheiden in der EM-Vorrunde gab Erich
Ribbeck seinen Rücktritt als TYainer der
deutschen Nationalmannschaft be
kannt. Dies war lediglich eine Voilzngs-
meldung. Nun schiessen in Deutschland
die Spekulationen über seinen Nach
folger wild ins Kraut Nauen wie
Christoph Daum, der mittlerweile ab
gesagt hat, oder Giovanni TVappatoni
werden hoch gehandelt Dabei ist die
ungelöste TMnerfrage nur die Spitze
eines (Eis-)Berges von Problemen.
«Der Zustand der Nationalmannschaft
ist furchtbar. Ohne Emotionen, ohne
Motivation, ohne Organisation. Es
muss ein gewaltiger Schnitt bei Perso
nal und beim System stattfinden», for
dert Ribbecks Vorgänger Berti Vogts.
Der Schnitt beim Personal wurde schon
in den Stunden nach dem 0:3 gegen Por
tugal eingeleitet. Ribbeck hat sich als
Tbamchef verabschiedet.
Während beinahe ganz Deutschland
darüber diskutiert, geht vielleicht verges
sen, dass das Problem des deutschen
Fussballs nicht mit dem Auswechseln des
TVainera gelöst wird. Die Probleme be
ginnen bei den Vereinen, und deshalb ist
nun die gesamte Bundesliga gefordert.
So sieht es auch Benfica Lissabons Dei
ner Jupp Heynckes. «In vielen europäi
schen Staaten gibt es Fussbali-Zentren,
.,.»p J,
U
//
Erich Ribbeck warf nach der Portugal-
Niederlage das Handtuch.
in denen durch aktive Juniorenarbeit der
Nachwuchs gestärkt wird.» Heynckes
fordert auch eine Reduzierung der Aus
länder in der Bundesliga.
Die TYainer der deutschen
Nationalmannschaft:
1923-1936: Prot Otto Nerz. 1936 -
1964: Sepp Herberger. 1964-1978: Hel
mut Schön. 1978 -1984: Jupp Derwall.
1984-1990: Franz Beckenbauer. 1990-
1998t Berti Vogts. 1998 - 2000: Erich
Ribbeck.
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