Liechtensteiner Volksblatt
Inland
Montag, 10. Januar 2000 7
Die Arbeit des Vereins für Betreutes
Wohnen in Liechtenstein
In 10 Jahren ein breites Angebot aufgebaut - Gespräch mit Präsident Dr. Fritz Ospelt und Geschäftsführer Matthias Brüstle
Inden nun mehr als 10 Jahren sei
nes Bestehens, konnte der Verein
für Betreutes Wohnen in Liech
tenstein (VBW) ein breites
Dienstleistungsangebot aufbau
en: Die Therapeutische Wohnge
meinschaft Guler (TWG) in Mau
ren (mit der Aufgabe, psychisch
beeinträchtigten Menschen Moti
vation zu einer sinnvollen Lebens
planung und -gestaltung zu ge
ben), die Sozialpädagogische Ju
gendwohngruppe Vaduz (fachlich
qualifizierte Betreuung und För
derung im Wohnbereich), das Mo
bile Sozialpsychiatrische Team
Schaan (bietet arbeitslosen und
psychisch beeinträchtigte Men
schen Betreuung und Behand
lung), die Sozialpädagogische Fa-
milienbegleitung (Lernhilfe für
Eltern vor Ort in Erziehungsfra
gen) und die Not- und Modulwoh
nungen im ganzen Land.
Mit Fritz Ospelt und Matthias Brüstle
sprach Gerolf Hauser.
VOLKSBLATT: Beim 10-Jahr-Ju-
biläum sprach Marcus Büchel, Vor
stand des Amtes flfr Soziale Dienste,
davon, aufgrund eines veränderten Be-
wusstseins v/erde heute allgemein ak
zeptiert, dass hilfsbedürftige Men
schen, auch wenn sie auffällig und
lästig sind, nicht abgeschoben werden
dürfen. Ist das so?
Fritz Ospelt: «Ich nehme an, dass es
nicht bei allen Bewohnern Liechten
steins so ist, aber bei der Mehrheit. Im
Normalfall kommen sogenannte auffäl
lige Menschen zu uns oder sie werden in
die bekannten Stationen interniert. Aus
dem normalen Standard des Wohlstan
des und Denkens heraus will man viel
fach nicht, dass diese Menschen bei uns
bleiben, sondern vor allem in die
Schweiz «abgeschoben» werden.»
In Mauren gab es bei der Einrichtung
der Therapeutischen Wohngemein
schaft Guler (TWG) einigen Wider
stand in der Bevölkerung.
Matthias: Brüstle: «Es ist so, dass die
TWG, zumindest in der Meinung der
Bevölkerung, in Mauren von heute auf
morgen eingesetzt wurde. Die Einset
zung einer Einrichtung für das Land
war aber ein längerfristiger Prozess.
Das Bedürfnis, Menschen aus Liechten
stein in Liechtenstein zu behandeln, ist
gewachsen im Laufe der späten 70er
und 80er Jahre. Es gibt einen Regie-
rungsbeschluss, der sinngemäss lautet,
dass es das Ziel ist, all jene Menschen
im Land dann zu betreuen, wenn es so
wohl fachlich wie wirtschaftlich mach
bar ist. Das war ein Grundsatzbe-
schluss. Danach hat es noch einmal vier
Jahre gedauert, bis man ein geeignetes
Gebäude gefunden hatte, da es keine
geeigneten Immobilien gab, bzw. geeig
nete nicht zur Verfügung gestellt wur
den. Dann wurde kurzfristig die TWG
in Mauren eröffnet und dagegen gab es
dann Widerstand.
Die 10 Jahre Arbeit, auf die wir
zurückschauen können, in denen wir
psychisch beeinträchtige Menschen be
treut haben, zeigen, dass es keinerlei
Beeinträchtigungen oder gar Gefahren
für die Nachbarn gibt. Bis auf ganz we
nige, haben die Nachbarn gesehen, dass
diesen Liechtensteinern mit psychoso
zialen Problemen in Liechtenstein, also
ihrem Zuhause, sinnvoll geholfen wer
den kann. Damit hat sich gezeigt, dass
man Menschen von einer Idee überzeu
gen kann.»
Früher war es selbstverständlich, dass
Menschen mit Behinderungen in der
Familie blieben.
In den 10 Jahren seines Bestehens konnte der Verein ßr Betreutes Wohnen in Liechtenstein (VBW) ein breites Dienstleistungs
angebot außauen: von links, Hansjörg Gartier (MST), Lisi Luciani (TWG), Karlheinz Müller (TWG), Mathias Brüstle (TWG-
Geschäfisführer und Karlheinz Stum (TWG/Haus auf Berg). (Bild: Gerolf Hauser)
Ftitz Ospelt: «Das liegt nicht so lange
zurück. Ich kann mich an solche Fälle
aus meiner Jugend erinnern, wo Men
schen in der Familie leben konnten, die
heute in Institutionen gegeben werden.
Sie lebten damals selbstverständlich im
Dorf und alle schauten nach ihnen, oh
ne dass es dafür eine Bezahlung gege
ben hätte. Das änderte sich, und solan
ge es im Land keine Institutionen gab,
wurden diese Menschen eben ins Aus
land abgeschoben. Das hat etwas mit
der Werteveränderungen im Land zu
tun, also mit dem Wohlstand. Die Liech
tensteiner sind überwiegend reich, es
geht ihnen zumindest gut, und soziolo
gische Untersuchungen zeigen, dass mit
zunehmendem Reichtum sich Werte
verändern, d.h. das Image steigt mit zu
nehmendem Wohlstand, der möglichst
durch nichts gestört werden darf.»
Geld verdirbt also doch den Charakter.
ftitz Ospelt: «Oft schon.»
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es
einen grossen wirtschaftlichen Auf
schwung in Liechtenstein. Bis zur Er
richtung solcher sozialen Einrichtun
gen dauerte es aber doch ca. 40 Jahre.
Und es hätte vermutlich hoch länger
gedauert, wenn die Initiative nicht von
Privatpersonen ausgegangen wäre.
Matthias Brüstle: «Mit der aufkom
menden Industrie, die ja vom Export
lebt, hat man dann eben das Störende
auch exportiert. Geld war vorhanden,
um das zu finanzieren. Damit war das
Problem aus der Welt geschaffen. Mitt
lerweile gibt es hier ein Umdenken.
Man spürt heute wieder, dass man eine
funktionierende Gesellschaft daran
messen kann, wie sie mit alten und
kranken Menschen umgeht. Es geht al
so immer weniger darum, wieviel Geld
man aufbringt, um sie ausserhalb der
Sichtweite zu versorgen, sondern wie
viel Kraft, Mühe und Energie man auf
bringt, die Menschen in eigenen Thera
pieeinrichtungen zu versorgen.
Das bringt aber auch Synergien; es
wird ein Umgang mit Menschen wieder
aufgenommen, den man verlernt hat.
Der Verein für Betreutes Wohnen hat in
Abgrenzung zu anderen Einrichtungen
grundsätzlich nicht die Aufgabe, geistig
behinderte Menschen zu betreuen, son
dern psychisch beeinträchtigte Men
schen, Jugendliche, die einen sozial-
pädagogischen Bedarf haben.»
FHtz Ospelt: «Zur Zeit der Gründung
unserer Institution waren wir in Mittel
europa so ziemlich die letzten, die das in
Angriff nahmen. In anderen Ländern
gab es solche Institutionen schon. Viel
leicht hängt das wieder mit der wirt
schaftlichen Entwicklung, also mit dem
Geld zusammen. Denn diesbezüglich
war Liechtenstein weiter als andere
Länder in Europa. Die Gründung des
Vereins hier war ein Gemisch aus Pri
vatinitiative und Staat.
Vom damaligen Fürsorgeamt kamen
die Ideen und Wünsche, eine solche In
stitution zu gründen. Damals setzten sie
sich mit mir privat zusammen und frag
ten, ob ich solch einen Betrieb bereit
wäre zu leiten. Der Verein für Betreutes
Wohnen ist ein privatrechtlicher Ver
ein. Wir bekommen bei 3,5 Mio Fran
ken Ausgaben eine Million Landesbei
trag, d.h. wir erhalten für eine Leistung
von 3,5 Mio eine Million Zuschuss.»
Wie sieht das Betreuungskonzept aus?
Matthias Brüstle: «Unser Ziel ist
grundsätzlich, ressourcenorientiert zu
arbeiten. Wenn die Menschen zu uns
kommen, existieren meist dicke Akten,
in denen steht, was die Menschen nicht
können. Wir versuchen herauszube
kommen, was sie können und versu
chen das zu stärken. Unser Ziel ist, in al
len Unternehmensbereichen, die Reha
bilitation, also nicht nur das Bewahren
des Vorhandenen.
Für unsere Klientel ist es notwendig
als Ziel ihre Selbständigkeit, also das
Leben in einer möglichst grossen Ei
genverantwortlichkeit zu sehen. Das
versuchen wir zu erreichen mit systemi
schen Ansätzen, d.h. wir sagen nicht,
dass wir alles besser machen, sondern
versuchen z.B. die Herkunftsfamilien,
Arbeitskollegen und das, was dort ge
macht wurde mit einzubeziehen, die
von dort kommende Kraft und den Halt
zu bewahren.
In einem weiteren Schritt versuchen
wir, Ablösungsprozesse dort zu gestal
ten, wo sie noch nicht gelungen sind.
Wir versuchen den Klienten sozusagen
Werkzeuge in die Hand zu geben, die es
ihnen gestatten, sich selbst zu organisie
ren. Und dies in drei wesentlichen Le
bensbereichen: Im Bereich der Arbeit
sich selbst seine wirtschaftliche Sicher
heit zu schaffen, zweitens die Möglich
keit eines eigenen Raumes zu errei
chen, also ein Zuhause und drittens ei
nen sozialen und gesellschaftlichen
Kontext zu bilden, also z.B. einen
Freundeskreis. Die Kernziele heissen
also Arbeit, Wohnen, soziales Leben
oder kurz Reintegration. Diese systemi
sche Therapie hat sich international be
währt.
In unseren Häusern integrieren wir
die Klienten in eine Tagesstruktur. Es
gibt Tätigkeiten im Haus oder Garten,
oder Einkäufe für das Haus, das Ko
chen und gemeinsame Essen. Am
Nachmittag gibt es ein Programm, das
den Klienten zeigt, wie weit sie fein-
und/oder grobmotorische Fähigkeiten
haben. Es gibt auch künstlerische Akti
vitäten, ohne uns in Kunst für die Kunst
zu erschöpfen, d.h. wir machen dann
künstlerisch etwas, wenn es einen thera
peutischen, wirtschaftlichen, sozialen
Sinn macht. Wir lassen nicht 1000
Tontöpfe formen, die wir heimlich
nachts entsorgen, weil sie niemand
braucht. Unsere Programme sind indi
viduell auf die Einzelnen abgestimmt
und zeigen, wie die drei Ziele Arbeit,
Wohnen, Soziales erreicht werden kön
nen. Es gibt aber auch gemeinsame Ak
tivitäten, wie z.B. Feste oder auch Kri
seninterventionen.»
Ritz Ospelt: «Wir haben eine Unter
suchung machen lassen, aus der hervor
geht, dass für die im Ausland betreuten
Menschen bedeutend höhere Aufwen
dungen nötig sind, als für unsere Arbeit.
Dass die Auslandsbetreuung von Jahr
zu Jahr kostspieliger wird, daran stört
sich kein Mensch. Wir leisten gute Ar
beit mit bedeutend weniger finanziellen
Mitteln. Bei dem in der Untersuchung
gemachten Preis-Leistungs-Verhältnis
kommt der Verein Betreutes Wohnen
sehr gut weg. Aber nicht nur aus Kos
tengründen ist es besser, die Menschen
im Land zu lassen, sondern auch vom
therapeutischen Gesichtspunkt her.
Abgesehen von der psychiatrischen
Grundversorgung - es gibt keine ent
sprechende Klinik im Land - ist Liech
tenstein mit der sozialen Versorgung
gut eingerichtet.»
Gabriela Köb, Leiterin der TWG,
sprach beim I0-Jahr-Jubiläum davon,
dass Erfolge nicht programmierbar
seien, es keine allgemeingültigen Re
zepte gebe. Das bedeute, dass das Ge
genteil dessen eintreten könne, was
man eigentlich wollte, es aber auch
Veränderungen gebe, die fast an Wun
derheilung grenzten.
Matthias Brüstle: «Unsere Erfolge
sind mit zweierlei Mass zu messen. Zum
einen nach betriebswirtschaftlichen
Gesichtspunkten wie jedes Non-Profit-
Unternehmen. Zum anderen daran, wie
nachhaltig therapeutische Massnah
men und das Sich-Entwickeln unserer
Klienten sich auf ihre Zukunft auswir
ken. Die Nachhaltigkeit ist das Erfolgs
kriterium Nummer eins, also die Frage,
ob jemand imstande ist, nachdem sie/er
unsere Betreuungssysteme erfahren
hat, sich wirtschaftlich, sozial und woh-
nungsmässig nicht nur über Wasser zu
halten, sondern sich weiter zu ent
wickeln. Es gibt im Umgang mit psy
chisch Kranken Richtwerte für eine un
mittelbare Rehabilitation. Wir können
an der Fluktuation unserer Klienten be
messen, wie weit unsere aktuelle Arbeit
gelingt. Wir können schon während des
Aufenthaltes bei uns sehen, inwieweit
wir uns den bei der Aufnahme gesteck
ten Ziele nähern, also die Ablösungs
prozesse, das Schaffen neuer Kontakte
und einen Arbeitsplatz. Voraussetzung
allerdings ist, dass es uns gelingt, die
Klienten davon zu überzeugen, dass der
Aufenthalt bei uns für sie Sinn macht.
Das ist bei psychisch Beeinträchtigten
nicht immer einfach, da sie oftmals we
der ja noch nein sagen können. Um all
dies zu erreichen, machen wir Vorstös-
se, die manchmal sofort gelingen,
manchmal später und manchmal auch
gar nicht. Die Durchschnittsver
weildauer bei uns beträgt ein Jahr (die
Betreuung der ambulanten Dienste
dauert natürlich länger). Es gibt auch
Abbrecher, denen es nicht gelingt, ja zu
sagen. Dann gibt es Klienten, die wir
hinaussetzen, z.B. bei Drogenkonsum
oder Gewaltanwendung. Das sind aber
sehr wenige.»
Herr Brüstle, Sie sind «nur» Geschäfts
führer?
Matthias Brüstle: «Ich bin von mei
ner Grundausbildung her Psychologe.
Eigentlich wollte ich nicht im sozialen
Bereich tätig sein, kann aber heute sa
gen, dass es ein grosses Glück war für
mich, hier einsteigen zu können. Ich ha
be einen Vorgesetzten erhalten, der mir
betriebswirtschaftlich sehr viel vorlebt.
So konnte ich mich persönlich sehr
stark entwickeln. Natürlich habe ich als
Geschäftsführer viel administrative Ar
beit zu leisten, bin aber auch als Psy
chologe in die Arbeit involviert.»
Herr Ospelt, wie kommen Sie zu dem
Engagement?
Fritz Ospelt: «Ganz einfach: Weil ich
damals vor 10 Jahren gefragt wurde und
ja gesagt habe. Mir liegt etwas daran,
ehrenamtlich für die Gesellschaft etwas
zu tun. Die Schweizer haben Militär
dienst; bei uns gibt es keinerlei Ver
pflichtungen, für die Gesellschaft etwas
zu tun. Das emotionelle Engagement ist
dadurch gegeben, weil ich will, dass wir
in Liechtenstein dazu fähig sind, diese
Menschen bei uns zu betreuen und
nicht zu exportieren.
Das führt auch zurück auf ein Ge
spräch, das ich vor elf Jahren im Fürs
tenhaus hatte, wo es darum ging, dass
Liechtenstein politisch auf dem Weg
zur Selbständigkeit und Integration in
Europa ist. Dazu gehört auch die sozia
le Selbständigkeit. Es ist für mich eine
Genugtuung, mich hier einzusetzen,
gute Leute zu engagieren und eine so
ziale Institution betriebswirtschaftlich
wie eine Aktiengesellschaft zu führen.
Und es ist für mich eine grosse Genug
tuung, dass wir eine Anerkennung er
fahren von ausländischen Institutionen,
die zu uns kommen und fragen, wie wir
das machen.
Wir sind im Ausland inzwischen ein
Paradebeispiel dafür, wie man so etwas
macht. Hier ist in der Öffentlichkeit, so
wohl bei der Bevölkerung wie auch bei
z.E Ärzten, zu wenig bekannt, welches
Angebot wir liefern können. So werden
immer noch zu viele Menschen ins Aus
land geschickt. Natürlich können wir
die Ärzte nicht verpflichten, die. Klien
ten zu uns zu schicken, aber wir können
unsere Arbeit anbieten und vor allem
auch bekannter machen.»
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