Verfassungsverständnis des Staatsgerichtshofs "Verfassungsvitalität"12 Die Offenheit der Verfassung13 erweist sich dabei in unterschiedlicher Form: als strukturelle, funktionelle und sprachlich-materielle Offenheit.14 Die Offenheit der Verfassung kann indes nicht die Auflösung ihrer Normativität in eine totale Dynamik bedeuten, in der sie ausserstande wäre, dem Gemeinwesen leitende Sta bilität zu geben.15 Die Verfassung muss auch rechtliche Grund- und Rah menordnung für Staat und Gesellschaft sein.16 Zwischen dem "Offen sein" der Verfassung für gesellschafdiche Entwicklungen und Auffassun gen und'der Ordnungsfunktion der Verfassung besteht eine wechselsei tige Bedingtheit und Ergänzung: Die Verfassung bedarf als normatives Gefüge der permanenten Aktualisierung und damit der Offenheit, wie umgekehrt die Spontanität individueller und gesellschaftlicher Selbstdar stellung' und Selbstentfaltung die Einfügung in Ordnungsstrukturen erforderlich macht.17 2. Zum Verfassungs- und Grundrechtsverständnis des Stäatsgerichtshofs ' Die vorstehend skizzierte Bipolarität jeder Verfassung, ihre Eigenschaft als offener Ordnungsrahmen, kann sich naturgemäss in unterschiedli chen "Schattierungen" präsentierten. Eine Verfassung betontmehr den normativitätsstützenden Ordnungsgedanken, die andere setzt stärker auf ihre Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit. Ob eine konkrete Verfas sung eher dem einen oder dem anderen Typus zuzuordnen ist,'und ob 12 Dazu vgl. auch Michael Kloepfer, Verfassung und Zeil, Der Staat 13 (1974), 457 ff.; Peter Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), 111 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinter pretation, S-' 77 ff. 13 Der Begriff der offenen Verfassung findet sich wohl zum ersten Mal bei Thomas Fleiner, Die offene Verfassung. Ein Ziel der Totalrevision, Civitas 31^ (1975), 225 ff. M M.Nachw. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 78 ff. 15 S. vor allem Konrad Hesse, Die Normativität der Verfassung, 1959; s. auch den pro grammatischen Untertitel der Untersuchung von Bryde zur Verfassungsentwicklung: 'Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland". " S. auch aus neuerer Zeit Karl Korinek, Interpretation von Verfassungsrecht, in: Susis- recht in Theorie und Praxis. Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag, 1991, S. 363 (371 ff.); Kurt Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, ZSR n.F. 110 (1991) II. Halbb., 143 (232 ff.). 17 Hierzu siehe etwa Konrad Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundge setzes, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, 1962, S. 71 (90); Klaus Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 260; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 84 f. 41