gedrungen eine aus unserer Sicht entstandene Aus-
wahl. Das Werk Niggs ist umfangreich, über tausend
Blätter und Wandtextilien. Mein Onkel hat mir einmal
gesagt, man sollte zwei Drittel aus dem Werk Niggs
ausscheiden können, um ihm zur vollen Anerkennung
zu verhelfen. Im Innern tun wir das auch, bewusst oder
unbewusst.
Ferdinand Nigg hat nie eine Leinwand bemalt, trotz-
dem dürfen und müssen wir von Malerei sprechen. Er
besitzt ein grossartiges Flächenempfinden, eine starke
Rhythmik in Strichen, Abstraktionen, Reihungen von
Formen und, wenn es sein muss, einen äusserst sensi-
blen Umriss. Die Stärke seiner Expression liegt weni-
ger in der Farbe, sie ist vielfach untergeordnet den erdi-
gen Flächen und den Rhythmisierungen in Tusche,
Kohle usw. Die Anregung zur Malerei ist keine fauvi-
stische oder impressionistische. Im Pinselduktus ist
manchmal eine Struktur vorhanden, wie bei van Gogh,
nicht aber in der Farbe; was ihn nicht hindert, eine
grosse Sensibilität in weiss und den anderen Farben,
besonders innerhalb der Stickereien, zu entwickeln.
Auch in den Gouachen der Magdeburger Zeit sind
kühne Farbempfindungen durchgebrochen. In der Ent-
wicklung einer Thematik, die sich über Jahrzehnte hin-
zieht, entstanden oft freieste Blätter, ohne Absicht auf
späteres Textil. Nigg arbeitet gleichzeitig auch mit der
steten Intention, seine Formen und Expressionen einer
weiteren Vereinfachung zu unterstellen, um eine geeig-
nete Umsetzung in die Stickerei zu finden. Es scheint,
dass unter jahrelangem intensivem Schaffen hie und
da, wie ein Geschenk, spontan, ein besonderes Kunst-
werk geboren wurde, das nicht mehr der Absicht und
dem Schema diente, sondern aus einer ganz tiefen
Schau eines Mystikers notiert wurde.
In Niggs Werk müssen wir die Textilkunst als etwas
ganz Besonderes sehen. Sie verkörpert das Kristalline
in seinem Werk. Das Expressive, in seinen früheren
Wandbehängen noch vorhanden, verliert an Bedeu-
tung, es wird zu einer Art paradiesischem Zustand.
Obwohl die Themen «St. Georg», «Ave Maria», «Weih-
nacht», «Seltsamer Ritt», «Mensch und Häuser»,
«Ornamentale Formen» heissen. Die Strukturierung,
Rhythmisierung, das Licht und das Material, alles geht
in einer Einheit, in einer seelischen Ruhe auf. Die
Hauptbehänge sind Meisterwerke unseres Jahrhun-
derts im Sinne einer kristallinen Einheit. Sie sind reine
Gebilde, aus einem schöpferischen Reichtum und aus
meditativer Haltung entstanden. Es ist zu erwähnen
‘auch nicht anders denkbar), dass Nigg diese Sticke-
"eien bis zum letzten Stich selbst ausführte und wäh-
‚end des Arbeitsprozesses weiterentwickelte.
Selbstverständlich ist die Suche nach neuer Gramma-
tik und Wortschatz — zum Zeitpunkt, da in Frankreich
der Kubismus entsteht und in ganz Europa neue Bild-
und Geistesräume erschlossen werden — für Nigg
nicht folgenlos abgelaufen. Das Typische im französi-
schen Kubismus, der immer ein Pendel zwischen
Abstraktion und Realität enthält, schwenkt Nigg in
Magdeburg in eine andere Art Kubismus, gleichsam
wie die Rhythmisierung einer Gewandgestaltung des
15. oder 16. Jahrhunderts, wo die freien Rhythmisie-
‚ungen demnach dem Gewand, seiner äusserlichen
Funktion, unterstellt sind; Nigg hat sein Thema über
die stark rhythmisierten Abstraktionen gestellt. Der
uns bekannte Kubismus gründet in einem gewissen
Hin und Her zwischen Elementen, die eine gegen-
ständliche Art, aber nicht das volle gegenständliche
Bild wiedergeben. Die Gegenstände, gebettet in eine
abstrakte Anlage, sind fragmentiert. Der Kubismus be-
wegt sich in der Polarität zwischen meistens abstrak:
ten und nur zum Teil gegenständlichen Elementen,
Bei Nigg ist das Gegenständliche eher ein themati-
scher Begriff, sein Kubismus wächst nicht aus Ab
straktion von Gegenständen wie in den Stilleben, son-
dern ergibt sich aus der betonten Begrifflichkeit des
Themas und der Abstraktion. Dies bringt Nigg auch
zu einer Typisierung der Formen, manchmal sogar zu
einer Schematisierung. Es kommt vor, dass Nigg mit
Schematisierung «werkt». Dann aber liegen viele Ar-
beiten Niggs wiederum in einer gnadenhaften Schau,
in der der letzte Strich, der kleinste Fleck und Woll-
stich seelisch und kompositionell von einer grossen
Einheit durchdrungen sind.
Evi Kliemand beweist in der Monographie «Ferdinand
Nigg, Wegzeichen zur Moderne», dass Nigg die Fähig-
keit besass, ins rein Abstrakte vorzustossen, und dies
auch schon früh unternahm (ca. 1903-1908). Dieser
Schritt liegt in seiner Veranlagung. Nigg unterzog sich
letztlich im Grossteil seines Werkes dem konkret dar-
gestellten Thema. Hierin liegt eine Verschiebung der