Volltext: Bestandeskatalog

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) 
Bäume über Sandweg, 1912 
Öl auf Leinwand 
70 X 80 cm 
Bez. u. 1. (Pinsel in Schwarz) 
sowie verso: E L Kirchner 
Gordon 248 
LSK 88.18 
Das 1912 auf der Insel Fehmarn entstandene Gemälde Bäume 
über Sandweg erweckt zunächst durch die spannungsvolle 
asymmetrische Komposition Aufmerksamkeit: Von der rechten 
unteren Bildecke ausgehend, schwingen die nackten Stämme 
von drei hohen Bäumen gegen oben und links aus. Der an glei- 
cher Stelle ansetzende und in denselben Brauntönen gehaltene 
Sandweg antwortet dem gegenläufigen Schwung des linken 
Baumes mit kurviger Biegung, die noch zusätzlich durch die 
blaue Schattenlinie der Wegfurche betont ist. Ebenfalls rechts 
unten, im Zentrum dieses fächerförmigen Ausstrahlens, findet 
sich eine mit blauem Kontur umrissene menschliche Gestalt, die 
sich kaum von der Landschaft abhebt. In dem Masse, wie sich 
die Figur der Landschaft kompositionell und farblich angleicht, 
nähert sich auch die Vegetation dem Menschen: Besonders die 
Baumstämme wirken beseelt, anthropomorph. Donald E. Gor- 
don deutet die Fehmarn-Bilder,' in denen der zumeist in gerin: 
gem Massstab dargestellte Mensch im Einklang mit der Natur 
steht, ja völlig in der Schöpfung aufgeht, als Ausdruck eines in 
hohem Masse verfeinerten Pantheismus. Die Gestaltungsweise 
der üppigen Vegetation evoziert ein mediterranes Paradies, doch 
handelt es sich hier nicht um eine südländische Landschaft, son- 
dern um die zwischen Kieler und Mecklenburger Bucht gele- 
gene Insel Fehmarn. 
Kirchner hatte erstmals 1908 auf der fruchtbaren deutschen Ost- 
seeinsel gemalt. Doch wie anders sah Kirchner die Landschaft 
damals! Die fast gewaltsam, teilweise mit dem Spachtel pastos 
aufgetragenen Farbbahnen, deren Konturen oft mit der Tube be- 
tont sind,? ergeben dynamisierte Kompositionen, deren vibrie- 
rende Oberflächentextur an van Goghs Provence-Landschaften 
erinnert, wohl ein Reflex der Van-Gogh-Ausstellung, die Kirch- 
ner im Mai 1908 in Dresden bei Emil Richter besucht hatte. Der 
schwere, pastose Auftrag von aus dunklem Grund glutvoll 
leuchtenden Farben der ersten Fehmarn-Bilder ist in den vier 
Jahre später entstandenen Landschaften einem beschwingteren. 
dünnflüssigen Pinselduktus gewichen. Linie und Fläche vermö- 
gen sich nun wieder gegenüber der Textur zu behaupten. Einige 
dieser Fehmarn-Bilder, insbesondere das Hauptwerk von 1912, 
Die ins Meer Schreitende ? wirken skizzenhaft und lassen den 
Malgrund mitsprechen. Mag 1908 noch das Vorbild van Goghs 
wirksam gewesen sein, so ist die dichte, splissige Pinselschrift 
der Fehmarn-Bilder, die den Gegenständen wieder Plastizität 
verleiht, den Formprinzipien Cezannes verpflichtet. Auch die 
Farbskala ist heiterer geworden, wird weniger von lauten Tönen 
bestimmt. Wie in den übrigen Landschaften der Jahre 1912/13 
vermeidet Kirchner auch im Bild Bäume über Sandweg die 
primären Farbkontraste, wie sie noch den grossflächigen, typi- 
schen Brücke-Stil der Vorjahre bestimmten. 
Das ungebrochene Verhältnis des Menschen zur Schöpfung, das 
die in den Sommermonaten 1912 und 1913 auf Fehmarn entstan- 
denen Werke zum Ausdruck bringen, steht in Kontrast zu den in 
Berlin entstandenen Gemälden dieser Jahre. Die Stadtlandschaf- 
ten und Strassenbilder mit den Kokotten, die Variete&- und Kaf- 
feehaus-Szenen spiegeln eine Welt voller Dynamik und Sinnes- 
reize, die jedoch um den Preis der Entfremdung, Kälte und 
Verlorenheit erkauft wird. Der Wunsch nach Wiederherstellung 
der ursprünglichen Harmonie von Mensch und Natur sprach 
schon aus Kirchners Arbeiten der Dresdener Zeit (vgl. Badende, 
sich waschend, 1910, S. 102). Doch nährt sich diese Utopie ge- 
rade von der negativen Erfahrung der Zivilisation, der Kirchner 
als Stadtmensch angehört. Erst der Rückzug in die Davoser 
Bergwelt sollte den Künstler der Verwirklichung dieser Utopie 
näherbringen. P.M. 
Gordon, Donald E.: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog 
sämtlicher Gemälde. München, 1968, S. 94. Vgl. auch Wypich, Eugen: Ernst 
Ludwig Kirchner. Gemälde 1911-1917. Analytische Untersuchungen zu 
Werkstruktur. Dissertation. Giessen, 1983, S. 92-101. 
Gordon, wie Anm. 1, S. 55. 
Staatsgalerie Stuttgart (Gordon 262).
	        

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