Volltext: Politischer Wandel in konkordanzdemokratischen Systemen

Gerhard Lehmbruch Vergehens. Es handelt sich also nicht um ein «Nullsummenspiel», in dem nur eine Seite gewinnen kann und die andere Seite entsprechend verlieren muss. Während man den britischen Parlamentarismus als Nullsummen­ spiel beschreiben kann, haben wir es bei der Konkordanzdemokratie mit einem Nicht-Nullsummenspiel mit einer offenen Entscheidungssituation zu tun. Die bisherige Mehrheitsgruppe (z. B. der schweizerische Freisinn oder die österreichischen Konservativen) steht vor der Wahl, ob sie alles auf die Karte der Mehrheitsregel setzen will - im Gefangenendilemma entsprä­ che das der Zusammenarbeit des einen Gefangenen, der sich zu «singen» entschlossen hat, mit der Anklagebehörde - oder ob sie statt dessen für eine Konkordanzstrategie optiert - analog zum Verhalten des Gef angenen, der sich zur Komplizenschaft mit dem Mitgefangenen entschliesst. Die Impli­ kation ist natürlich, dass beide Seiten zwischen Kooperation und Verweige­ rung wählen können. Wenn eine Minderheit keine Sanktionsmöglichkei­ ten hätte, dann wären die Bedingungen des Gefangenendilemmas nicht gegeben, m. a. W. es ist nicht zu erwarten, dass es zu konkordanzdemokra­ tischer Kompromissbereitschaft kommt. Andererseits impliziert dieser Vergleich, dass der Ausgang immer offen ist, immer risikobehaftet. Die grossen Schweizer Parteien, voran der Freisinn, wählten Ende des 19. Jh. die Kooperation, indem der Katholik Josef Zemp in den Bundesrat gewählt wurde - anders die grossen österreichischen Parteien 1934. Als 1917 die grossen niederländischen Parteien ein Abkommen schlössen, das die politi­ schen Konflikte über das Schulsystem und über die Wahlrechtsfrage durch eine Paketlösung beilegte (Einführung des allgemeinen Wahlrechts mit Ver­ hältniswahl und Finanzierung auch der konfessionellen Privatschulen durch den Staat), hing die Kompromissbereitschaft der bürgerlichen Par­ teien nicht zuletzt damit zusammen, dass sie schwer abschätzen konnten, ob nicht eine Fortsetzung der Könfrontationspolitik die Sozialisten als lachenden Dritten sehen würde. Angst vor einem Bürgerkrieg muss also nicht das einzige Motiv für Kompromissbereitschaft der Eliten sein. Viel­ mehr scheint generell insbesondere den Ausschlag zu geben, dass eine Kon­ frontationspolitik mit Hilfe des Mehrheitsprinzips, wenn man Mehrheiten nicht in Wahlen nennenswert verändern kann, höchst unkalkulierbar wird. Ein solcher Rückgriff auf spieltheoretische Überlegungen zwingt uns nicht dazu, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, dass politische Akteure Macht oder Einfluss erwerben und behaupten wollen - man muss bloss sehen, dass eine einfache Strategie der Einflussmaximierung kontraproduk­ tiv sein kann. 20
	        

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